Jerusalem

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Mittwoch, 24. Februar 2016

„V5N6“ von Louise Welsh

Nachdem ihr neuer Freund – was ganz und gar nicht seine Art ist – sie bei einem Rendezvous kommentarlos versetzt hat und auch an den folgenden Tagen weder zurückruft noch auf ihre zahlreichen SMS reagiert, muss Stevie Flint wohl davon ausgehen, dass ihre hoffnungsvolle, nur wenige Monate alte Beziehung zu dem erfolgreichen Chirurgen Doktor Simon Sharkey damit schon wieder beendet ist. Was die gescheiterte junge Journalistin, die sich ihren Lebensunterhalt als Moderatorin bei einem Shoppingsender verdient, neben dem persönlichen Liebes- und Vertrauensverlust in selbstironischem Fatalismus jedoch am meisten schmerzt, ist der nicht unbeträchtliche Wert ihrer exklusiven Kosmetikartikel und des teuren Designerkleids, die sich noch in der Wohnung des Arztes befinden. Zwar widerstrebt es ihr, den Ort noch einmal zu betreten, an dem ihr ein unbeschwerteres Leben plötzlich zum Greifen nahe schien, aber schließlich fasst sie sich doch ein Herz und betritt während Simons üblicher Arbeitszeit mit Hilfe des ihr von ihm anvertrauten Zweitschlüssels heimlich sein Luxusappartement.




Hier muss Stevie auf denkbar grausamste Art und Weisen erkennen, dass sie ihrem Liebhaber Unrecht getan und dieser für sein Nichterscheinen zum Rendezvous und sein tagelanges Schweigen die beste und furchtbarste Ausrede hat, die man sich nur vorstellen kann, denn er liegt im Zustand fortgeschrittener Verwesung tot in seinem Bett. Nachdem sich die junge Frau schockbedingt gleich an Ort und Stelle erbrochen hat, schafft sie es gerade noch, die Polizei zu verständigen und die anschließende Befragung psychisch einigermaßen unbeschadet zu überstehen, bevor sie schließlich, am Ende ihrer Kräfte, nach Hause fährt und sich für die folgenden Tage krank meldet. Tatsächlich bekommt sie noch am selben Tag Anfälle von Schüttelfrost, die sie aber zunächst ebenfalls ihrem emotionalen Ausnahmezustand zuschreibt. Doch nur wenige Stunden später treten bei Stevie weitere heftige Krankheitssymptome auf: hohes Fieber, Durchfall, starker Husten und krampfartiges Erbrechen – mehrere Tage liegt Stevie stark geschwächt und wie bewusstlos im Bett, bis es ihr allmählich wieder besser geht.

Wollen Sie damit sagen, dass ich ernsthaft krank war?“
Julia zuckte mit den Achseln. „Jedenfalls geht ein ziemlich hässliches Virus um. Die Medien bauschen das natürlich auf. Sie sind jung und bei Kräften, also wahrscheinlich nicht. Wenn Sie alt wären oder an einer Grunderkrankung litten, wäre das etwas anderes. Die Hautptsache ist, dass Sie sich wieder erholt haben.“

Aus dem Fernsehen erfährt Stevie unterdessen, dass in ganz Europa ein bislang unbekannter, überaus aggressiver Virusstamm grassiert, für den es bislang keine erfolgreiche Behandlungsmethode zu geben scheint und dem im Verlauf der letzten Tage schon tausende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Außerdem bekommt sie noch während ihrer Rekonvaleszenz überraschend Besuch von Simons Schwester, die ihr einen Brief ihres Freundes übergibt und sie über den Abschlussbericht der polizeilichen Ermittlungen informiert. Man habe weder Anhaltspunkte für Mord noch für Selbstmord feststellen können und trotz Simons tadellosem gesundheitlichen Zustand und guter körperlicher Fitness scheine alles für einen natürlichen Tod zu sprechen. Der Inhalt des Briefes legt allerdings anderes nahe: darin bittet der Arzt seine Freundin in eindringlichen Worten, ein Paket an sich zu nehmen, das er heimlich auf ihrem Dachboden versteckt habe, und dieses auf keinem Fall einer anderen Person auszuhändigen als nur einem bestimmten, namentlich bezeichneten Kollegen von ihm in der Klinik.


University College London Hospitals/Foto: Jim Linwood


Bei diesem Paket handelt es sich, wie sich bald herausstellt, um einen Laptop mit Passwortschutz. Als Stevie in ihrem Auto aufbricht, um Simons letzten Wunsch auszuführen, befindet sich London bereits deutlich erkennbar in Aufruhr, Polizei und Gesundheitsbehörden sind mit der Durchsetzung von Quarantänemaßnahmen beschäftigt und auf den Straßen ist die Furcht vor dem tödlichen Virus bereits allgegenwärtig. Im Krankenhaus erfährt sie von einem sich sehr freundlich und besorgt gebenden Kollegen ihres Freundes, dass ihre Kontaktperson leider kürzlich verstorben sei. Gleichzeitig zeigt der leitende Arzt großes Interesse an ihrem geheimnisvollen Paket, bedrängt sie geradezu: sie könne es ihm guten Gewissens anvertrauen, er sei ein guter Freund von Simon und habe gemeinsam mit ihm am selben Projekt gearbeitet, der Entwicklung einer neuen Behandlungsmethode bei infantiler Zerebralparese, die vielen Kindern in Zukunft das Leben erleichtern werde. Nur durch einen Zufall gelingt es Stevie, sich des Arztes zu erwehren und mit dem Laptop zu entkommen.

Erholt sie sich wieder?“
Dr. Chu schaute immer noch zur Tür, als sei sie sich nicht sicher, ob sie ihr folgen solle.
Sie meinen, ob sie überlebt?“
Die Brutalität ihrer Frage schockierte Stevie, aber sie musste sich eingestehen, dass sie genau das gemeint hatte.
Ja, denke schon.“
Die Ärztin schaute sie an. „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Im vierzehnten Jahrhundert sind sechzig Prozent der Bevölkerung Europas an der Pest gestorben. Es ist ein Mythos, dass es an den Ratten lag. Die Wahrheit ist, dass wir die Gründe bis heute nicht richtig kennen. Jeder Überlebende hatte in seiner näheren Umgebung Opfer zu beklagen. Viele haben ihre ganze Familie verloren.“
Aber das kann man doch nicht annähernd vergleichen, oder?“
Die Ärztin wich ihrem Blick aus. Erneut ging ihre Hand zu den Haaren. Diesmal hatten sich tatsächlich ein paar Strähnen gelöst. Sie strich sie zurück.
Das kann man unmöglich wissen.“
Sie haben gesagt, Labore auf der ganzen Welt arbeiten daran. Eins wird doch sicher ein Gegenmittel finden?“
Vielleicht. Andererseits gibt es keinen lebenden Arzt, der nicht ständig daran erinnert wird, dass wir bereits an einem wirksamen Mittel gegen Erkältungen gescheitert sind.“

Als sie wenig später erstmals wieder zur Arbeit erscheint, findet sie ihr kleines Produktionsteam in Auflösung begriffen: ihre Co-Moderatorin und beste Freundin liegt todkrank auf der Intensivstation und die Regisseurin zeigt ebenfalls bereits deutliche Symptome des Virus. Direkt nach der Sendung wird Stevie von einem Fremden brutal überfallen, der es unverkennbar auf ihren Laptop abgesehen hat und sie beinahe erdrosselt. Mit Hilfe des Parkplatzwächters gelingt ihr jedoch in letzter Minute die Flucht, nur um ihre Wohnung vollkommen durchwühlt und verwüstet vorzufinden. An einen natürlichen Tod ihres Freundes kann Stevie nach den Erlebnissen der letzten Woche längst nicht mehr glauben, und so versucht sie auf eigene Faust, mehr über Simon und seine Arbeit herauszufinden. Ein befreundeter Polizeibeamter vermittelt ihr schließlich die Bekanntschaft eines vorbestraften Hackers, der ihm noch einen Gefallen schuldet. Dieser soll Stevie dabei helfen, das Rätsel um Simons Tod aufzuklären, doch in einem Umfeld, in dem der Tod allgegenwärtig ist, wird es zunehmend schwieriger zu unterscheiden, wer eines natürlichen und wer eines künstlich herbeigeführten Todes gestorben ist.


London 2011/Foto: Peter Trimming


Die schottische Schriftstellerin Louise Welsh hat mit „V5N6“ einen atemberaubend spannenden Thriller auf höchstem literarischen Niveau geschrieben, in dem sie das realistische Szenario einer weltweiten Pandemie entfesselt, die jeden willkürlichen Akt des Terrors wie einen minder schweren Betriebsunfall erscheinen lässt. Denn während es hier noch einen konkreten sichtbaren Gegner gibt, den man mit überschaubaren Mitteln bekämpfen kann, müssen wir dort einen unsichtbaren Feind fürchten, dessen Eigenschaften wir selbst mit dem fortgeschrittenen mikrobiologischen Wissen unserer Zeit kurz- bis mittelfristig kaum zu entschlüsseln oder wirksam zu bekämpfen vermögen, sondern der zerstörerischen Intelligenz eines nicht auf ein bestimmtes Territorium eingrenzbaren mutierten Virus nahezu schutzlos ausgeliefert sind. Die Betroffenen in Louise Welshs glänzend beobachtetem Roman fliehen Hals über Kopf aufs Land, halten ihre Mitmenschen mit Waffengewalt davon ab, sich ihnen auf mehr als zehn Metern Entfernung zu nähern, sie plündern Supermärkte, um sich in selbstgewählte Isolation zurückzuziehen oder flüchten sich in möglicherweise letzte Genüsse wie wahllosen Sex und hemmungslose Sauforgien.

Was ist ein Todesfall verglichen mit Tausenden? Eine Tragödie für Familie und Freunde, natürlich, aber es ist, wie ich dir gesagt habe. Wir sind im Krieg. Da gelten andere Regeln. Vielleicht können wir nicht verhindern, dass sich das Fieber weiter ausbreitet, aber wir können unser Bestes tun, um für Ordnung zu sorgen.“ Seine Stimme klang jetzt wieder bestimmt, er wurde wieder zu dem Derek, den sie kannte, zu dem standfesten Mann, der sich seiner selbst und der Verdorbenheit der Welt sicher war. „Tu dir einen Gefallen und fahre nach Hause, solange es noch hell ist. Du weißt, wie London ist, ein verdammter Dampfdrucktopf. Polizei und Feuerwehr sind unterbesetzt, und es hat dreißig Grad im Schatten. So schnell kannst du gar nicht schauen und die Muslimbruderschaft und die English Defence League stacheln sich wieder gegenseitig auf, ganz zu schweigen von all den anderen Durchgeknallten, die bei schönem Wetter gerne aus ihren Löchern kommen. Heute Nacht könnte so eine von den Nächten werden, in der sich der Druck entlädt.“

Louise Welshs intelligenter Thriller („Schlagen sie diesen Roman nicht auf, wenn sie heute noch etwas vorhaben!“ ) ist aber nicht nur außergewöhnlich unterhaltsam, sondern auch von beeindruckender erzählerischer Ökonomie und sprachlicher Prägnanz. Ohne den Leser mit allzu vielen medizinischen Details zu belasten, gelingen ihr ausgesprochen fesselnde und überzeugende Milieuschilderungen und psychologische Porträts. Die zunehmend im bittersten Sinne auf sich allein gestellte verzweifelte Protagonistin ist die einzige Person im Buch, von der wir wissen, dass sie das Virus überlebt hat – diese Tatsache scheint der einzige plausible Grund, warum Stevie inmitten des allgegenwärtigen sie umgebenden fortschreitenden Sterbens all ihre Energie (anstatt sich aufs eigene Leben zu besinnen) auf die restlose Aufklärung der Hintergründe von Simons rätselhaftem Tod konzentriert und sich damit bewusst der realen Gefahr eines gewaltsamen Todes durch jene aussetzt, die das immer noch verhindern wollen und sie unerbittlich verfolgen, obwohl zu befürchten steht, dass es bald keine nennenswerte Öffentlichkeit mehr geben wird, die noch Interesse an der schockierenden Wahrheit haben könnte. Beinahe zu spät beginnt Stevie zu ahnen, dass die Hintermänner möglicherweise aus einem vollkommen anderen Grund hinter ihr her sein könnten als sie bisher geglaubt hat.

Louise Welsh/Foto: Gunter Gluecklich

Muss mit der flächendeckenden Ausbreitung eines hochansteckenden Virus auch unser vertrautes Leben als soziale Wesen enden? Verurteilt uns eine potenziell tödliche Krankheit zwangsläufig zur Einsamkeit? Wie können wir dem drohenden Verhängnis entfliehen? Anders als viele konventionelle internationale Thrillerautoren lässt Louise Welsh ihren Roman am Ende nicht kraftlos in sich zusammenfallen, sondern nutzt Showdown und Auflösung, um den Leser zahlreichen drängenden, gewissermaßen „letzten“ Fragen auszusetzen, die ihn angesichts von akuten Fällen wie Ebola, Zika und Dengue noch lange über das Buch und das darin skizzierte Schreckensszenario nachdenken lassen.

„V5N6“, aus dem Englischen von Wolfgang Müller, erschienen bei Antje Kunstmann, 352 Seiten, € 19,95

Montag, 15. Februar 2016

Das fragwürdige Flair der Verdrängung

Am Landgericht Detmold findet zur Zeit der möglicherweise letzte große Auschwitz-Prozess vor einem Gericht in Deutschland statt. Der 94jährige ehemalige Angehörige der SS Reinhold H. muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.00 Fällen verantworten, an denen er als Wachmann im Stammlager des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau beteiligt gewesen sein soll. Ein jüdischer Auschwitz-Überlebender, der im laufenden Prozess als Zeuge und Nebenkläger fungiert, bekannte am Abend des ersten Verhandlungstages gegenüber den Tagesthemen, dass er mitunter irritierenderweise eine gewisse Art von Mitleid gegenüber dem Angeklagten empfinde, dessen altersbedingter schlechter Gesundheitszustand den Prozess für ihn zu einer großen physischen und psychischen Belastung mache.


 Konzentrationslager Auschwitz/Foto: Logaritmo


Reinhold H. selbst hat sich bislang nicht geäußert – weder zu den gegen ihn persönlich erhobenen Vorwürfen noch zu dem prinzipiellen historischen Sachverhalt des kollektiven von Nazi-Deutschland begangenen Völkermords an Europas Juden, über den hier jenseits individueller Schuld verhandelt wird. Holocaust-Experten und Gerichtspsychologen sehen in seiner Persönlichkeit die für viele Angehörige der Tätergeneration typischen Verdrängungsmechanismen auf absolut repräsentative Art und Weise verwirklicht: „Ich kann mich nicht erinnern, ja das ist mein Flair“, wie es der Texter der Comedy-Gruppe EAV, Thomas Spitzer dem ähnlich „vergesslichen“ ehemaligen Wehrmachtsoffizier und späteren österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim vor fast dreißig Jahren in einer nonchalanten „Rock Me Amadeus“-Persiflage in den Mund legte.

Ohne Frage war die Zeit des Nationalsozialismus auch für sogenannte Volksdeutsche traumatisch. Sich aber an selbst mitverantwortete oder auch nur stillschweigend geduldete Verbrechen einfach nicht zu erinnern, scheint angesichts der erdrückenden historischen Beweislast wenig glaubwürdig. Aber auch die zweite, nach dem Krieg flächendeckend immer wieder vorgeschobene allgemeine Ausflucht, man habe ja von all diesen furchtbaren Verbrechen gar nichts gewusst, hält einer genaueren Untersuchung des Sachverhalts kaum stand: jeder wahlberechtigte Deutsche, der es wissen wollte, war schon vor 1933 in der Lage dazu, sich über Hitlers radikale Ziele zu informieren. Nach der Machtergreifung wurden die deutschen Juden auf beispiellose Art und Weise ausgegrenzt und verfolgt, wurden schließlich deportiert und ermordet, waren am Ende nahezu spurlos aus der deutschen Öffentlichkeit verschwunden.

Die Behauptung, vom monströsen nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen Juden nichts gewusst zu haben, obwohl die Transporte ja gewöhnlich von zentralen Sammelstellen in deutschen Großstädten losfuhren, auf deutschen Bahnstrecken, die gewöhnlich Städte und Dörfer auf direktem Weg miteinander verbinden, ist ein Mythos, den möglicherweise nur eine Generation zu akzeptieren bereit sein konnte, die jüdisches Leben in Deutschland schon nicht mehr kannte und von den Kriegstraumata ihrer Eltern hoffnungslos überfordert war. In seinem erschütternden Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ über die bis heute kaum bekannte Selbstmordepidemie im Deutschland des Jahres 1945 berichtet der Autor Florian Huber sehr eindrücklich von einem Dorf in der Lausitz, in der in den letzten Kriegstagen die sehr bezeichnende Angst vor einer riesigen russischen Knochenbrechermaschine kursierte, mit deren Hilfe die besiegten Deutschen nach der kurz bevorstehenden Kapitulation auf fabrikmäßig-ökonomische Art und Weise vernichtet werden sollten. Eine deutlichere unbewusste Spiegelung der von Nazi-Deutschland verantworteten Verbrechen kann man sich kaum vorstellen.


"Pegida"-Demonstration in Dresden/Foto: blu-news.org


Wenn man vor einer Wahl steht, egal ob es sich dabei um eine moralisch-abstrakte oder konkrete körperschaftliche Wahl handelt, muss man sich selbst notwendigerweise Rechenschaft über die möglichen Konsequenzen seiner Entscheidung ablegen. Man muss sich über die eigenen moralischen Maßstäbe und persönlichen Ziele klarwerden sowie unter Umständen zwischen verschiedenen Alternativen abwägen und sich für die eine oder die andere Möglichkeit entscheiden. Aber man muss auch, nachdem man seine Wahl getroffen hat, ihre direkten Auswirkungen unablässig mit der Realität vergleichen, um sich darüber bewusst zu werden, ob die eigenen Ansprüche in ihnen tatsächlich verwirklicht werden. Als 1933 die Nationalsozialisten auf demokratischem Wege an die Macht gelangten, hatten sich viele Deutsche für populistische Versprechen und die vermeintliche Hoffnung auf ein besseres Leben entschieden. Sie taten dies aber bewusst auf Kosten anderer und mit wenig rationaler Voraussicht auch auf eigene Kosten.

Letztlich drängt sich das Bild von unreifen, kindischen Menschen auf, deren Eigennutz, Ignoranz und Bequemlichkeit deutlich größer sind als ihr Wille, das eigene Lebensumfeld mit wachen Sinnen und scharfem Bestand zu beobachten, selbst nachzudenken und Verantwortung fürs eigene Leben zu übernehmen. Das Bild von Hitler als Verführer, der die Deutschen auf einen verhängnisvollen und falschen Weg geführt hat, ist nicht mehr als eine bequeme Selbsttäuschung. Wer sich nachträglich von einem populistischen Demagogen getäuscht fühlt, gleicht einem Freier, der eine aufregende, aber unpersönliche Nacht im Bordell verbracht hat und am nächsten Morgen lauthals herumjammert, die Hure hätte es lediglich auf sein Geld abgesehen gehabt und ihn zum Dank noch mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt.

Diese Einstellung – und es scheint äußerst schmerzvoll dies zuzugeben – ist auch heute noch weiter verbreitet, als man sich gemeinhin einzugestehen bereit ist: zum Beispiel dort, wo für den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie aufgrund gesetzeswidriger Abgasmanipulationen die USA als Spielverderber verantwortlich gemacht werden anstatt des VW-Konzerns als Verursacher. Oder wo ein ehemals staatlich subventionierter Industriezweig notwendig gewordene Einschränkungen des Gesetzgebers mit dem Hinweis auf die bisherige Praxis nicht hinnehmen will. Oder wo jemand über die Kürzung seiner Rente schimpft, obwohl er weiß, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vergleich zum ursprünglichen Veranlagungszeitraum so einschneidend verändert haben, dass realitätsbezogene Anpassungen unumgänglich sind. Wo einer seinen vermeintlich sicheren Job verliert, den man ihm ursprünglich als absolut krisensicher anemphohlen hat. Oder einfach nur dort, wo man für einen persönlichen Fehlkauf die Schuld nicht bei sich selbst sucht, sondern beim Verkäufer oder Hersteller. Die Liste scheinbar banaler Beispiele ließe sich ohne Mühe beliebig fortsetzen, aber die kollektive Einstellung, die ihr zugrunde liegt, ist alles andere als banal, sondern sehr gefährlich, denn es geht dabei um nichts anderes als die persönliche Verantwortung als Individuum und als mündiger Teil eines Kollektivs abzugeben und sich durch die Unterwerfung unter eine äußere (Pseudo-)Autorität moralische Absolution zu erkaufen.

Landgericht Detmold/Foto: Tsungam

Ein spezifischer Lösungsansatz, für den man als Schüler noch eine Eins bekommen hat, kann vierzig Jahre später grundsätzlich falsch sein. Das mag für den Betreffenden schwer zu akzeptieren sein, besonders wenn er sich angesichts seiner Leistung über Jahrzehnte in der falschen Gewissheit amtlicher Anerkennung gesonnt hat, aber das Leben hält für solche Erlebnisse keine Garantie und kein Sicherheitsnetz bereit. Seiner persönlichen Verantwortung für sich, sein Leben und seine Mitmenschen muss man sich unmittelbar selber stellen. Besorgniserregend scheint, dass sich in der Einstellung vieler Deutscher in dieser Hinsicht offenbar bis heute wenig geändert hat. Ständig sehen sie sich permanent arglistig getäuscht und übervorteilt, ob vom Staat, von der sogenannten Lügenpresse, dem Arbeitgeber oder der Gewerkschaft. Angesichts des gesellschaftlichen Zuspruchs, den fremdenfeindliche, nationalchauvinistische Organisationen wie AfD und Pegida derzeit erhalten, ist es jedoch zu wenig, den eigenen Verstand auszuschalten und darauf zu hoffen, dass man später nicht sagen muss: Sie haben uns getäuscht! Wie hätten wir es jemals für möglich halten sollen, dass sie wirklich auf Flüchtlinge schießen würden, sie haben ja nur gesagt, dass sie es vorhaben!

Es gibt Stimmen, die einem greisen Angeklagten wie Reinhold H. mit Hinweis auf seinen angeschlagenen Gesundheitszustand einen anstrengenden Prozess vor dem ordentlichen Gericht eines demokratischen Rechtsstaates ersparen wollen. Dies würde aber trotz des gebotenen menschlichen Mitgefühls nicht nur ein erneutes nicht zu rechtfertigendes Verbrechen an den Opfern der Schoah darstellen, die in den deutschen Konzentrationslagern ungeachtet ihres Alters und Gesundheitszustandes vollkommen willkürlich millionenfach in den Tod geschickt wurden. Es wäre außerdem eine öffentliche Verhöhnung all derer, die diese Schrecken überlebt haben und bis heute an ihren zahlreichen physischen und psychischen Folgen leiden und auf Gerechtigkeit und öffentliche Anerkennung hoffen. Letztlich wäre eine ordentliche Durchführung des Prozesses gegen Reinhold K. Aber auch ein wichtiges Signal, dass die historische Selbsttäuschung all jener die „nichts gewusst haben“ wollen, „sich nicht erinnern können“ oder “sich vom Führer betrogen fühlen“ vor Gericht keinen Bestand haben kann. Diese Erkenntnis ist entscheidend – besonders heute.

Dienstag, 9. Februar 2016

„Aron und der König der Kinder“ von Jim Shepard

Der große visionäre Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak (1878-1942), der sich wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen für eine umfassende gesellschaftliche Übereinkunft über allgemein verbindliche Kinderrechte sowie eine von liebevoller Achtung der kindlichen Persönlichkeit geprägte Form der Erziehung einsetzte, beklagte zeit seines Lebens besonders die schmerzliche Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber Kindern im Allgemeinen sowie den eigenen Kindern im Besonderen.  In seinem wunderbaren „Vorwort an den erwachsenen Leser“ zu seiner programmatischen Erzählung „Wenn ich wieder klein bin“ (1925) schreibt er sehr eindrücklich:


Ihr sagt:
„Der Umgang mit Kindern ermüdet uns.“
Ihr habt recht.
Ihr sagt:
„Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen.
Hinuntersteigen, uns herabneigen, beugen, kleiner machen.“
Ihr irrt euch.
Nicht das ermüdet uns. Sondern – dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen.
Um nicht zu verletzen.

Während viele seiner im Kontext der Zeit geradezu revolutionären Erziehungsansätze selbst heute noch sogar in hoch entwickelten Gesellschaften weniger selbstverständlich scheinen als man sich wünschen möchte, begann nur wenige Jahre später die völkische Bewegung in Deutschland ihr menschenverachtendes Gegenprogramm zu Korczaks pädagogischen Ideen zu formulieren, so Johanna Haarer in ihrem verhängnisvollen sogenannten Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934), das in leicht modifizierten Neuauflagen und unter allgemeinerem Titel bis in die 1970er Jahre in deutschen Haushalten weit verbreitet war und die Gedankenwelt vieler Familien bis heute auf unselige Weise prägt. Der Grundgedanke des größten Verkaufserfolgs der letzten Jahre auf dem Markt der Erziehungsratgeber („Jedes Kind kann schlafen lernen“) lautet „lasst das Kind schreien, bis es still ist“. Schon die spätere NS-Gausachbearbeiterin für „Rassefragen“ Haarer hatte in ihrem Buch das Kind geradezu als Feind betrachtet: um es zu einem zukünftigen guten deutschen Soldaten zu erziehen, sind direkter Blickkontakt, Spaß, Trost und Freude strengstens verboten, und wenn das Kind schreit „dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen.“





Genau vor diesem unseligen Kontrast, deren Auswirkungen für das persönliche Glück eines Kindes und seinen Start ins Leben kaum bedeutsamer sein könnte, hat der amerikanische Schriftsteller Jim Shepard einen beeindruckenden Roman konstruiert und damit ganz nebenbei die vielleicht gelungenste fiktive literarische Vergegenwärtigung einer Kindheit im Warschauer Ghetto geschaffen, die wir bislang lesen durften. Dabei ist es dem Autor auf vorbildliche Art und Weise gelungen, die Gedankenwelt Janusz Korczaks und den von ihm propagierten wünschenswerten Umgang mit Kindern so auf eine anspruchsvoll-fesselnde Handlung zu übertragen, dass sein Buch auch jenseits genauerer (oder auch nur weitläufiger) Kenntnis der pädagogischen Ideen Janusz Korczaks als unkonventionelle Mischung aus Bildungs- und Schelmenroman glänzend funktioniert.

Ich sehe meine Gefühle durch ein Teleskop“, sagte er. „Es ist eine kleine Bande, die sich auf einer polaren Ebene zusammendrängt. Wenn einer hustet, empfinde ich zuerst Mitleid und dann das Gegenteil: Vielleicht ist er ansteckend. Vielleicht müssen wir ihm unser letztes bisschen Arznei geben."
Sie entschuldigte sich und sagte, sie lasse ihn jetzt schlafen.
Ich bin nicht dazu da, um geliebt zu werden, sondern um zu handeln“, sagte er zu ihr.
Der Heilige befiehlt und Gott ist sein Vollstrecker“, sagte sie.
Ich tue, was ich kann“, sagte er. „Unser Gott mag nicht den Willen haben, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, aber das heißt nicht, dass wir das Gesetz nicht befolgen sollten.“
Wen verklagen wir wegen Vertragsbruch?“, fragte sie.
Levi Jizchak, der Berditschewer Rebbe, soll Gott vor ein rabbinisches Gericht geladen haben“, sagte er zu ihr.
Ich glaube, wir finden nie einen Ort, an dem wir in Ruhe verdauen können und unseren Frieden haben“, sagte sie.
Manchmal denke ich: Schlaf nicht ein“, sagte er. „Hör dir noch zehn Minuten ihr Atmen an. Ihr Husten. Die leisen Geräusche, die sie machen.“

Der kleinwüchsige, schwächliche Aron wächst als zweitjüngstes Kind einer armen jüdischen Familie im dörflichen Polen auf. Seine ersten Lebensjahre sind von einem urtümlich-anarchischen Freiheitsdrang geprägt, der von seiner Familie zunächst als Anzeichen von Schwachsinn missdeutet wird. Da man ihm aufgrund seiner geringen Körpergröße allgemein wenig zutraut und er erst spät zu lesen und zu schreiben lernt, darf er zu Hause viel Zeit mit seiner Mutter verbringen, deren ganze mütterliche Liebe und Sorge jedoch dem bettlägerigen jüngsten Bruder gilt, der nach Jahren liebevoller Pflege schließlich doch entkräftet an einer Lungenentzündung stirbt. Als Arons Vater wenig später eine Stelle als Fabrikarbeiter in Warschau annimmt und die ganze Familie mit ihm in die polnische Metropole zieht, erweitert sich der Horizont des aufgeweckten, aber vernachlässigten Jungen schlagartig. Nachdem er seine Hilfsarbeitertätigkeit wegen seiner unerschütterlichen Eigensinnigkeit verloren hat, beginnt er mit einem befreundeten Nachbarsjungen eine denkwürdige Karriere als Dieb und Schmuggler, wodurch er erstmals den wohlwollenden Respekt seines hartherzigen Vaters gewinnt, während die Beziehung zur geliebten Mutter darunter leidet. Diesen herzzerreißenden Konflikt meistert Aron jedoch mit dem bedingungslosen Selbstbewusstsein eines Erwachsenen, ohne dabei in seiner Liebe nachzulassen.

In dieser Nacht krabbelte ich, als alle schliefen, zu meiner Mutter ins Bett, was sie überraschte. Sie roch nach Kohl und nach Ofenkohle. „Hast du schlecht geträumt?“, fragte sie mit ihrer schläfrigen Stimme. Ihr Finger kitzelte mich am Ohr:
Wein nicht“, sagte ich zu ihr, und sie steckte meinen Kopf unter ihr Kinn. Ich schlang die Arme um ihren Hals, und da sagte sie, ich sei ihr wunderbarer Junge. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich ins Bett gemacht.

Die Bombardierung Warschaus durch Nazi-Deutschland und die anschließende Besetzung Polens verändern das Leben von Aron und seiner Familie tiefgreifend. Dabei ist es ausgerechnet Aron, der sich der allmählichen Einschränkungen durch die Nazis am längsten und besten zu erwehren vermag. Selbst noch als er mit seinen Angehörigen eine karge Wohnung im Ghetto beziehen muss, das die Deutschen zunehmend strenger und repressiver von der Außenwelt abriegeln, kann er durch seine rege Schmugglertätigkeit durch ein Mauerloch und später durch den Haupteingang seiner Familie und seinen Freunden erstaunlich lange ein einigermaßen erträgliches Leben finanzieren. Doch das bleibt nicht lange so. Bald schon wird eine weitere Großfamilie in ihrer engen Wohnung einquartiert und wenig später müssen sich Arons Vater sowie seine beiden älteren Brüder zu einem angeblichen Arbeitseinsatz melden. Man wird nie wieder von ihnen hören. Als besonders verhängnisvoll erweist sich jedoch auf lange Sicht Arons „Freundschaft“ mit einem opportunistischen Angehörigen der jüdischen Ghettopolizei, der seinen Schützling als Spitzel und arglosen Denunzianten missbraucht.


Warschauer Ghetto, Krochmalna-Straße


Nachdem er hilflos mit ansehen muss, wie einer seiner Freunde vor seinen Augen von der Gestapo erschossen wird und seine geliebte Mutter wenig später nach wochenlangem Leiden an Fleckfieber stirbt, steht Aron schließlich ganz allein da. Weil seine Freunde ihn gleichzeitig zu Recht und zu Unrecht für einen Denunzianten halten und ihn mit dem Tod bedrohen, versteckt er sich über Wochen in den Ruinen zerstörter Häuser und verlassenen Kellern. Am Ende seiner Kräfte wird er schließlich von Janusz Korczak gefunden, der ihn in seinem Waisenhaus aufnimmt, wo sich Aron langsam erholt – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Hier lernt er einen kaum für möglich gehaltenen Mikrokosmos von gegenseitigem Respekt und Toleranz kennen, in dem sich Kinder und Erwachsene auf gleichberechtigter Ebene begegnen. Im barbarischen Umfeld des Ghettos, in dem die Nationalsozialisten ein gewalttätiges Regime mutwilliger Anarchie installiert haben, das der Philosophie Janusz Korczaks auf größtmögliche Weise entgegensteht, sorgt dieser selbst unter schlimmsten Rahmenbedingungen bis an den Rand der totalen Erschöpfung für eine Atmosphäre der Menschlichkeit und des Friedens sowie für ein ausgeprägtes feinsinniges Kulturleben. Noch im Sommer 1942 führt er mit seinen Kindern Rabindranath Tagores berühmtes Stück „Das Postamt“ auf, das aufgrund seiner befreierischen Thematik auch in den Konzentrationslagern zu dieser Zeit ausgesprochen häufig gespielt wurde. Und obwohl Aron immer noch die Rache seiner ehemaligen Kameraden fürchtet, darf er schon bald den Heimleiter auf seinen täglichen kräftezehrenden Betteltouren begleiten, mit denen der berühmte Pädagoge bis zuletzt das Bestehen seines Waisenhauses aufrecht zu erhalten versucht.

Ich war bei ihm, weil ich jetzt jedes Mal, wenn die Lichter ausgingen, daran denken musste, wie meine Mutter im Krankenhaus aufwachte und mich nirgendwo fand und wie sehr es sie überraschte, dass sie keine Faust machen konnte. Ich sah Luteks Gesicht, als ihm die Kaninchenfellmütze davonflog.
Während ich hier lag, erfand ich eine Maschine“, sagte Korczak mit dem Rücken zu mir. „Eine Art Mikroskop, das in einen hineinsehen konnte. Es hatte eine Skala von eins bis hundert, und ich stellte die Messschraube auf neunundneunzig, sodass jeder sterben würde, der nicht zumindest ein Prozent seiner Menschlichkeit behalten hatte. Nachdem ich die Maschine dann hatte laufen lassen, waren nur noch Bestien übrig. Alle anderen waren umgekommen.“
Sie hatten eine schwere Woche“, sagte Madame Stefa.
Und als ich die Messschraube auf achtundneunzig stellte, war ich ebenfalls tot“, sagte er.

Über die letzten Tage Janusz Korczaks und seiner fast 200 Schützlinge gibt es zahlreiche erschütternde authentische Zeitzeugenberichte. In der wohl prominentesten literarischen Beschreibung schildert der Pianist Waldyslaw Szpilman auf herzzerreißende Art und Weise, wie Korczak und seine langjährige Partnerin Stefania Wylczynska die Kinder Anfang August 1942 angesichts des Deportationsbefehls auf einen Sommerausflug vorbereiten und sie fröhlich singend zum Umschlagplatz begleiten. Wir wissen heute, dass Korczak aufgrund seiner Prominenz nicht nur vom polnischen Widerstand, sondern auch von den deutschen Besatzern zahlreiche Gelegenheiten erhielt, der Deportation nach Treblinka zu entgehen, jedoch die von ihm betreuten Kinder um keinen Preis im Stich lassen wollte und sie vermutlich sogar bis in die Gaskammer begleitete – eine Konstellation äußerster Selbstaufopferung, die auch Jerry Lewis in seinem niemals fertiggestellten Film „The Day the Clown Cried“ (1972) künstlerisch umzusetzen versuchte. In Jim Shepards Roman soll Aron schließlich unter dem Druck seiner nun im Widerstand organisierten ehemaligen Freunde entscheidende Hinweise für einen Anschlag auf das deutsche Polizeihauptquartier liefern. Die einzige Bedingung, die er stellt, scheint jedoch vollkommen unerfüllbar...

Jim Shepard/© Jim Shepard


Das große literarische und moralische Wagnis, die historischen Vorgänge im Warschauer Ghetto im Rahmen der fiktiven Handlung eines Romans zu schildern, ist Jim Shepard durch seine sensible, psychologisch fundierte Arbeit an seinen vielschichtigen Charakteren und dank seiner mühevollen, psychisch aufreibenden Quellenrecherche auf ebenso überraschende wie bewundernswerte (und noch dazu spannende) Art und Weise kongenial geglückt. Die von ihm geschilderten Ereignisse bewegen sich dabei nicht nur im engsten Bereich des historisch Möglichen, sondern stellen eine so meisterhafte Verdichtung all dessen dar, was wir heute über die Schoah sowie die Vielzahl der in ihr versammelten Einzelschicksale wissen, dass man hier kaum noch von Fiktion sprechen kann. Obwohl alle wesentlichen von Janusz Korczak eingeforderten Kinderrechte (Achtung der Unwissenheit des Kindes, Achtung der Wissbegierde des Kindes, Achtung der Misserfolge und Tränen des Kindes, Achtung des Eigentums des Kindes, Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist) dem jungen Protagonisten im Rahmen der Handlung von den Erwachsenen systematisch vorenthalten, abgesprochen oder geraubt werden, stellt er sich den Herausforderungen seines Lebens mit bewundernswertem Mut. Jim Shepard hat mit seinem fesselnden Roman nicht nur dem Vermächtnis des großen Pädagogen Janusz Korczak ein unvergessliches literarisches Denkmal gesetzt, sondern auch der bewundernswerten menschlichen Fähigkeit, seinen eigenen inneren Kern selbst unter den widrigsten Bedingungen niemals aufzugeben, denn er ist das Einzige, was von uns bleibt – deshalb dürfen wir nicht aufhören, an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern.

„Aron und der König der Kinder“, aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner, erschienen bei C.H. Beck, 270 Seiten, € 19,95