Jerusalem

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Donnerstag, 24. März 2016

Die Blumen für die Opfer

Schwer zu sagen, was nach den Brüsseler Anschlägen am Dienstag an der ins Pflaster eingelassenen Windrose in der Fußgängerzone einer deutschen Großstadt zuerst da war: die Blumen für die Opfer von Brüssel oder – in der entgegengesetzten Richtung, kaum zwei Meter davon entfernt – die Blumen für die Opfer von Damaskus. Und während die bemerkenswert gefühlskalte Frauke Petry denjenigen, die sich öffentlich mit den Opfern solidarisieren, Heuchelei vorwirft, hat die Bildzeitung endlich, nach zwei Tagen Suche eine tragische Geschichte von deutschen Opfern für ihre Titelseite gefunden, als wäre es nur dann möglich, Mitgefühl zu empfinden, wenn auch Deutsche unter den Opfern sind. Es ist augenfällig, dass es unserer Gesellschaft bislang nicht gelungen ist, einen geeigneten öffentlichen Raum zu schaffen, in dem wir dem ganzen Spektrum unserer Gefühle und Gedanken zwischen Ratlosigkeit, Panik und Trauer angemessen Ausdruck verleihen könnten, ohne dafür beurteilt oder sogar persönlich angegriffen zu werden.

"Windrose"/Foto: Bernd Schwabe

Gibt es eine „richtige Art“ zu trauern? Allein die Formulierung einer solchen Frage offenbart nicht nur eine tiefe Verunsicherung, sondern auch ein zunehmendes Unvermögen des Individuums, seinen eigenen Standpunkt frei zu bestimmen. Dass angesichts von scheinbar wahllos zuschlagendem Terror der Wunsch nach Ordnung im eigenen Gefühlshaushalt groß ist, scheint verständlich. Zur Zeit muss man allerdings den Eindruck gewinnen, dass in Teilen unserer Gesellschaft eine viel umfassendere und viel tiefer sitzende Verunsicherung vorhanden zu sein scheint als wir uns einzugestehen bereit sind. Viele Menschen wünschen sich klare Worte und entschiedenes Handeln. Gewissenlose Populisten wie Frau Petry wissen und spüren das – sie nützen es aus, denn es ist ihre Chance, ihren eigenen inneren Führerstaat in der realen Welt zu verwirklichen. Müssen wir angesichts der wachsenden Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten der EU und den flächendeckenden Erfolgen rechtspopulistischer Parteien wirklich eine Renaissance des Nationalstaats befürchten?

Der Wunsch nach Abgrenzung oder besser: Abspaltung beruht auf einer umfassenden kulturellen Verdrängung. Faschismus und Kommunismus haben uns im Verlauf des Zwanzigsten Jahrhunderts eine stark vereinfachte Weltsicht vermittelt, die den Einzelnen nicht nur von einem großen Teil seiner natürlichen Verantwortung und vielen Rechten und Pflichten befreit hat, sondern auch von seiner persönlichen Freiheit als menschliches Individuum. Im Gegenzug hat der Einzelne neben zahlreichen Sozialleistungen und sonstigen staatlichen Vergünstigungen, die ihn von manchen alltäglichen Sorgen befreiten, auch eine fadenscheinige Sicherheit bekommen: die trügerische Gewissheit, was nach Meinung der Partei richtig und falsch, gut und böse ist. Trügerisch war diese Sicherheit nicht nur deshalb, weil sie den Menschen bei vollem Bewusstsein in einen unreifen, kindischen Zustand zurückversetzte, sondern auch, weil sie von der Partei stets nach eigenem Belieben willkürlich verändert werden konnte.


Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien/Foto: Bör Benedek

Wenn wir heute über multiethnische und multikulturelle historische Staatsgebilde wie das Römische oder das Osmanische oder auch das Reich der Habsburger reden, übernehmen wir erstaunlich oft weitgehend unkritisch die Sicht des Nationalstaats des Neunzehnten oder Zwanzigsten Jahrhunderts, der natürlich vor allem die angebliche Unterdrückung der kulturellen Identitäten der unterschiedlichen Volksgruppen innerhalb dieser Staaten brandmarkte. Die Überwindung der Gleichheit vor dem Gesetz der verschiedenen Volks- oder Religionsgruppen zugunsten einer einzelnen dominanten wurde als höchstes Ziel ausgegeben. Dabei hatten die genannten Staaten jeweils über mehrere Jahrhunderte Bestand, Römer und Osmanen hatten den von ihnen unterworfenen Völkern sogar umfangreiche Freiheiten und Instrumente der Selbstverwaltung gewährt. Die Schaffung der „modernen“ Türkei aus dem anatolischen Rumpfgebiet des Osmanischen Reiches ist möglicherweise ein besonders gutes Beispiel dafür, welche neuen Probleme die künstliche Schaffung einer Nation aus den interkulturell vielfach miteinander verstrickten Volksgruppen (Türken, Armenier, Griechen, Kurden) verursachen kann.

Doch auch in Osteuropa haben Polen, Ukrainer, Deutsche, Ungarn, Slowaken, Rumänen und Juden über viele Jahrhunderte in unterschiedlichsten Staaten friedlich zusammengelebt, bevor der aufkommende Nationalismus und seine beiden schlimmsten kriegerischen Entgleisungen ihre zum Teil äußerst fruchtbare Koexistenz endgültig beendete. Die Koexistenz vieler unterschiedlicher Volksgruppen innerhalb eines funktionierenden Staates ist aber eine vollkommen natürliche und organische, kaum vermeidbare Entwicklung. Der freie, selbstbestimmte Mensch möchte in Frieden leben, aber er möchte auch in einem Staat leben, in dem er etwas bewirken kann, dementsprechend wird er sich seinen Aufenthaltsort aussuchen. Ein wesentlicher Konflikt ergibt sich nun offensichtlich aus der unausgesprochenen Vorbedingung derjenigen, die erwarten, dass etwas für sie bewirkt wird, ohne dass sie selbst handeln müssen. Diese Prämisse aber entspricht der unreifen Weltsicht des Bürgers einer faschistischen oder kommunistischen Diktatur.


Sondermarke (1994)


Der Nationalstaat, den die AfD und andere rechte Kräfte scheinbar reaktivieren möchten, ist weder eine erstrebenswerte Option noch entspricht er in den parlamentarischen Demokratien Westeuropas den realen demographischen Gegebenheiten. Er ist die reflexhafte Flucht in die unrichtige Wunschvorstellung, dass Separation und Isolation Probleme lösen. Das Gegenteil ist richtig: es scheint schon jetzt erwiesen, dass die Attentäter von Brüssel und Paris gerade dort ein Zeichen setzen wollten, wo sie sich ausgegrenzt, unverstanden und isoliert fühlten. Lösen lassen sich Probleme, indem man aufeinander zugeht und miteinander spricht. Die Philosophie der Trennung verleitet uns zu der falschen Vorstellung, dass der Bürgerkrieg in Syrien und die von dort ausgehende Flüchtlingsbewegung nichts mit uns zu tun haben. Wir müssen aber begreifen, dass die Opfer von Damaskus genauso viel oder genauso wenig mit uns zu tun haben wie die Opfer in Brüssel. Nur ein handlungsfähiger, integrer und integrativer Staat, der für die unterschiedlichen kulturellen Strömungen innerhalb seiner Bevölkerung gleichermaßen attraktiv ist, kann dem Terror etwas entgegensetzen.

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