Jerusalem

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Montag, 15. Februar 2016

Das fragwürdige Flair der Verdrängung

Am Landgericht Detmold findet zur Zeit der möglicherweise letzte große Auschwitz-Prozess vor einem Gericht in Deutschland statt. Der 94jährige ehemalige Angehörige der SS Reinhold H. muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.00 Fällen verantworten, an denen er als Wachmann im Stammlager des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau beteiligt gewesen sein soll. Ein jüdischer Auschwitz-Überlebender, der im laufenden Prozess als Zeuge und Nebenkläger fungiert, bekannte am Abend des ersten Verhandlungstages gegenüber den Tagesthemen, dass er mitunter irritierenderweise eine gewisse Art von Mitleid gegenüber dem Angeklagten empfinde, dessen altersbedingter schlechter Gesundheitszustand den Prozess für ihn zu einer großen physischen und psychischen Belastung mache.


 Konzentrationslager Auschwitz/Foto: Logaritmo


Reinhold H. selbst hat sich bislang nicht geäußert – weder zu den gegen ihn persönlich erhobenen Vorwürfen noch zu dem prinzipiellen historischen Sachverhalt des kollektiven von Nazi-Deutschland begangenen Völkermords an Europas Juden, über den hier jenseits individueller Schuld verhandelt wird. Holocaust-Experten und Gerichtspsychologen sehen in seiner Persönlichkeit die für viele Angehörige der Tätergeneration typischen Verdrängungsmechanismen auf absolut repräsentative Art und Weise verwirklicht: „Ich kann mich nicht erinnern, ja das ist mein Flair“, wie es der Texter der Comedy-Gruppe EAV, Thomas Spitzer dem ähnlich „vergesslichen“ ehemaligen Wehrmachtsoffizier und späteren österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim vor fast dreißig Jahren in einer nonchalanten „Rock Me Amadeus“-Persiflage in den Mund legte.

Ohne Frage war die Zeit des Nationalsozialismus auch für sogenannte Volksdeutsche traumatisch. Sich aber an selbst mitverantwortete oder auch nur stillschweigend geduldete Verbrechen einfach nicht zu erinnern, scheint angesichts der erdrückenden historischen Beweislast wenig glaubwürdig. Aber auch die zweite, nach dem Krieg flächendeckend immer wieder vorgeschobene allgemeine Ausflucht, man habe ja von all diesen furchtbaren Verbrechen gar nichts gewusst, hält einer genaueren Untersuchung des Sachverhalts kaum stand: jeder wahlberechtigte Deutsche, der es wissen wollte, war schon vor 1933 in der Lage dazu, sich über Hitlers radikale Ziele zu informieren. Nach der Machtergreifung wurden die deutschen Juden auf beispiellose Art und Weise ausgegrenzt und verfolgt, wurden schließlich deportiert und ermordet, waren am Ende nahezu spurlos aus der deutschen Öffentlichkeit verschwunden.

Die Behauptung, vom monströsen nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen Juden nichts gewusst zu haben, obwohl die Transporte ja gewöhnlich von zentralen Sammelstellen in deutschen Großstädten losfuhren, auf deutschen Bahnstrecken, die gewöhnlich Städte und Dörfer auf direktem Weg miteinander verbinden, ist ein Mythos, den möglicherweise nur eine Generation zu akzeptieren bereit sein konnte, die jüdisches Leben in Deutschland schon nicht mehr kannte und von den Kriegstraumata ihrer Eltern hoffnungslos überfordert war. In seinem erschütternden Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ über die bis heute kaum bekannte Selbstmordepidemie im Deutschland des Jahres 1945 berichtet der Autor Florian Huber sehr eindrücklich von einem Dorf in der Lausitz, in der in den letzten Kriegstagen die sehr bezeichnende Angst vor einer riesigen russischen Knochenbrechermaschine kursierte, mit deren Hilfe die besiegten Deutschen nach der kurz bevorstehenden Kapitulation auf fabrikmäßig-ökonomische Art und Weise vernichtet werden sollten. Eine deutlichere unbewusste Spiegelung der von Nazi-Deutschland verantworteten Verbrechen kann man sich kaum vorstellen.


"Pegida"-Demonstration in Dresden/Foto: blu-news.org


Wenn man vor einer Wahl steht, egal ob es sich dabei um eine moralisch-abstrakte oder konkrete körperschaftliche Wahl handelt, muss man sich selbst notwendigerweise Rechenschaft über die möglichen Konsequenzen seiner Entscheidung ablegen. Man muss sich über die eigenen moralischen Maßstäbe und persönlichen Ziele klarwerden sowie unter Umständen zwischen verschiedenen Alternativen abwägen und sich für die eine oder die andere Möglichkeit entscheiden. Aber man muss auch, nachdem man seine Wahl getroffen hat, ihre direkten Auswirkungen unablässig mit der Realität vergleichen, um sich darüber bewusst zu werden, ob die eigenen Ansprüche in ihnen tatsächlich verwirklicht werden. Als 1933 die Nationalsozialisten auf demokratischem Wege an die Macht gelangten, hatten sich viele Deutsche für populistische Versprechen und die vermeintliche Hoffnung auf ein besseres Leben entschieden. Sie taten dies aber bewusst auf Kosten anderer und mit wenig rationaler Voraussicht auch auf eigene Kosten.

Letztlich drängt sich das Bild von unreifen, kindischen Menschen auf, deren Eigennutz, Ignoranz und Bequemlichkeit deutlich größer sind als ihr Wille, das eigene Lebensumfeld mit wachen Sinnen und scharfem Bestand zu beobachten, selbst nachzudenken und Verantwortung fürs eigene Leben zu übernehmen. Das Bild von Hitler als Verführer, der die Deutschen auf einen verhängnisvollen und falschen Weg geführt hat, ist nicht mehr als eine bequeme Selbsttäuschung. Wer sich nachträglich von einem populistischen Demagogen getäuscht fühlt, gleicht einem Freier, der eine aufregende, aber unpersönliche Nacht im Bordell verbracht hat und am nächsten Morgen lauthals herumjammert, die Hure hätte es lediglich auf sein Geld abgesehen gehabt und ihn zum Dank noch mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt.

Diese Einstellung – und es scheint äußerst schmerzvoll dies zuzugeben – ist auch heute noch weiter verbreitet, als man sich gemeinhin einzugestehen bereit ist: zum Beispiel dort, wo für den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie aufgrund gesetzeswidriger Abgasmanipulationen die USA als Spielverderber verantwortlich gemacht werden anstatt des VW-Konzerns als Verursacher. Oder wo ein ehemals staatlich subventionierter Industriezweig notwendig gewordene Einschränkungen des Gesetzgebers mit dem Hinweis auf die bisherige Praxis nicht hinnehmen will. Oder wo jemand über die Kürzung seiner Rente schimpft, obwohl er weiß, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vergleich zum ursprünglichen Veranlagungszeitraum so einschneidend verändert haben, dass realitätsbezogene Anpassungen unumgänglich sind. Wo einer seinen vermeintlich sicheren Job verliert, den man ihm ursprünglich als absolut krisensicher anemphohlen hat. Oder einfach nur dort, wo man für einen persönlichen Fehlkauf die Schuld nicht bei sich selbst sucht, sondern beim Verkäufer oder Hersteller. Die Liste scheinbar banaler Beispiele ließe sich ohne Mühe beliebig fortsetzen, aber die kollektive Einstellung, die ihr zugrunde liegt, ist alles andere als banal, sondern sehr gefährlich, denn es geht dabei um nichts anderes als die persönliche Verantwortung als Individuum und als mündiger Teil eines Kollektivs abzugeben und sich durch die Unterwerfung unter eine äußere (Pseudo-)Autorität moralische Absolution zu erkaufen.

Landgericht Detmold/Foto: Tsungam

Ein spezifischer Lösungsansatz, für den man als Schüler noch eine Eins bekommen hat, kann vierzig Jahre später grundsätzlich falsch sein. Das mag für den Betreffenden schwer zu akzeptieren sein, besonders wenn er sich angesichts seiner Leistung über Jahrzehnte in der falschen Gewissheit amtlicher Anerkennung gesonnt hat, aber das Leben hält für solche Erlebnisse keine Garantie und kein Sicherheitsnetz bereit. Seiner persönlichen Verantwortung für sich, sein Leben und seine Mitmenschen muss man sich unmittelbar selber stellen. Besorgniserregend scheint, dass sich in der Einstellung vieler Deutscher in dieser Hinsicht offenbar bis heute wenig geändert hat. Ständig sehen sie sich permanent arglistig getäuscht und übervorteilt, ob vom Staat, von der sogenannten Lügenpresse, dem Arbeitgeber oder der Gewerkschaft. Angesichts des gesellschaftlichen Zuspruchs, den fremdenfeindliche, nationalchauvinistische Organisationen wie AfD und Pegida derzeit erhalten, ist es jedoch zu wenig, den eigenen Verstand auszuschalten und darauf zu hoffen, dass man später nicht sagen muss: Sie haben uns getäuscht! Wie hätten wir es jemals für möglich halten sollen, dass sie wirklich auf Flüchtlinge schießen würden, sie haben ja nur gesagt, dass sie es vorhaben!

Es gibt Stimmen, die einem greisen Angeklagten wie Reinhold H. mit Hinweis auf seinen angeschlagenen Gesundheitszustand einen anstrengenden Prozess vor dem ordentlichen Gericht eines demokratischen Rechtsstaates ersparen wollen. Dies würde aber trotz des gebotenen menschlichen Mitgefühls nicht nur ein erneutes nicht zu rechtfertigendes Verbrechen an den Opfern der Schoah darstellen, die in den deutschen Konzentrationslagern ungeachtet ihres Alters und Gesundheitszustandes vollkommen willkürlich millionenfach in den Tod geschickt wurden. Es wäre außerdem eine öffentliche Verhöhnung all derer, die diese Schrecken überlebt haben und bis heute an ihren zahlreichen physischen und psychischen Folgen leiden und auf Gerechtigkeit und öffentliche Anerkennung hoffen. Letztlich wäre eine ordentliche Durchführung des Prozesses gegen Reinhold K. Aber auch ein wichtiges Signal, dass die historische Selbsttäuschung all jener die „nichts gewusst haben“ wollen, „sich nicht erinnern können“ oder “sich vom Führer betrogen fühlen“ vor Gericht keinen Bestand haben kann. Diese Erkenntnis ist entscheidend – besonders heute.

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