Jerusalem

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Dienstag, 5. Januar 2016

„Gott gab es aber Gretel ein“

Über den Verbleib der bösen Mutter im Märchen


Als Hänsel und Gretel den dunklen Wald ihrer furchtbaren inneren Reise verlassen und das Wasser des Unbewussten auf dem Rücken einer weißen Ente überqueren, schließt der dankbare Vater seine beiden Kinder erleichtert in seine Arme und heißt sie freudig willkommen. Wo aber ist seine hartherzige Frau geblieben, die böse Mutter der Urfassung von 1812 bzw. die Stiefmutter der späteren Fassungen, die ihren Mann überredet hatte, die beiden gemeinsamen Kinder im tiefen Wald auszusetzen, damit sie sich verirren oder gar sterben und das arme Ehepaar auf ihre Kosten künftig ein unbeschwerteres Leben führen kann und nicht länger hungern muss? „Die Mutter aber war gestorben“, heißt es am Ende ganz lapidar. Trotzdem haben sich viele Leser und Interpretatoren dieses archetypischen Ur-Märchens immer wieder die Frage gestellt, was genau aus dieser von Grund auf bösen Frau geworden sein mag, die kaltblütig ihre Kinder opferte, und welches unbekannten Todes sie gestorben ist.






Wenn man das Märchen von Hänsel und Gretel als große innere Handlung einer gewaltigen, von den beiden Kindern gemeinsam zu leistenden psychischen Aufgabe interpretiert, deren einzelne Stationen wie in einem intensiven Traum erstaunlich klar und folgerichtig und in geradezu unmissverständlicher Deutlichkeit vor uns liegen, kann die anfängliche Überraschung kaum größer sein als die nachhaltig überwältigende Erkenntnis, dass wir uns die ganze Zeit über von einer vollkommen falsch formulierten Frage haben in die Irre führen lassen. Das Schicksal der bösen (Stief-)Mutter wird uns doch ganz konkret und überdeutlich im Märchen selbst geschildert, wir müssen gar nicht darüber spekulieren: Hänsel und Gretel haben sie in Gestalt der Hexe in den Ofen geschoben, wo sie unter furchtbarem Geschrei und Gejammer bei lebendigem Leib verbrannt ist.  Die Figur der Hexe im dunklen Wald des Unbewussten kann zweifellos nichts anderes sein als eine besonders deutliche Vergegenwärtigung der (Stief-)Mutter, deren Bösartigkeit allerdings nun erst besonders augenscheinlich geworden ist. 

Da schien der Mond hell und die weißen Rieselsteine glänzten wie lauter Batzen. Hänsel bückte sich und machte sich sein ganz Rocktäschlein voll davon, so viel nur hinein wollten, dann ging er zurück ins Haus: „tröste dich, Gretel, und schlaf nur ruhig,“ legte sich wieder ins Bett und schlief ein.

Es gibt im Text des Märchens zahlreiche Hinweise, dass seine innere Logik der eines bedeutsamen Traumes folgt. Ein Traum, der uns eine dem wachen Bewusstsein noch verborgene Erkenntnis mitteilen will, arbeitet stets mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Symbolen, die sich zwar von Situation zu Situation verändern oder oft auch graduell verstärken können, aber in der Regel stets dieselbe Aussage wiederholen – und zwar (sofern wir den Traum aushalten) so lange, bis wir ihre Bedeutung für uns selbst erkennen und deuten können.  Hänsel und Gretel versuchen die Begegnung mit der wahren Gestalt ihrer Mutter, wie sie ihnen später im Wald als Knusperhexe erscheint, zweimal zu vermeiden – zu verdrängen eigentlich: indem Hänsel zunächst eine Spur aus Kieselsteinen legt, die die beiden Kinder schließlich nach Hause führt, und beim zweiten Mal eine aus Brotkrümeln, die von Vögeln und anderen Tieren des Waldes gefressen und somit beseitigt wird. Nun können sich die beiden Geschwister der großen, von ihnen zu vollführenden Aufgabe endgültig nicht mehr entziehen.


Hänsel und Gretel erschracken so gewaltig, daß sie fallen ließen, was sie in der Hand hielten, und gleich darauf sahen sie aus der Thüre eine kleine steinalte Frau schleichen. Sie wackelte mit dem Kopf und sagte: „ei, ihr lieben Kinder, wo seyd ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollts gut haben,“ faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen.

Doch obwohl Hänsel und Gretel nun „mutterseelenallein“ sind, auf sich selbst zurückgeworfen, drängt gerade jetzt die grausame Mutterfigur noch einmal mit übersteigerter Wucht zurück in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so dass sie nicht mehr ignoriert werden kann, zunächst jedoch als letzte verzweifelte Täuschung: hatten die beiden Geschwister kurz zuvor noch ihre letzten Brotkrümel weggeworfen, um eine sinnlos-vergängliche Spur in ihr altes Leben zu legen, das inzwischen unerreichbar ist, stehen sie plötzlich ganz unverhofft vor einem ganzen Haus aus Brot. Das dort wohnende gute alte Mütterchen, das sie zunächst so gastfreundlich mit Milch, Pfannkuchen und Nüssen bewirtet, entpuppt sich schon bald als böse alte Hexe, die sich im wahrsten Sinne des Wortes von den beiden Kindern ernähren will: Hänsel soll gekocht, Gretel gebraten werden. Nun lässt sich die bahnbrechende Erkenntnis nicht mehr verdrängen, die beiden Geschwister müssen handeln und sich radikal von der bösen Mutterfigur befreien. Gretel gelingt es, die Hexe zu überlisten, so dass am Ende jene statt ihrer selbst im Ofen verbrennt.




Der Reichtum aus Edelsteinen und Perlen, den Hänsel und Gretel im Hexenhaus vorfinden, ist allerdings – ähnlich wie im Märchen von den „Sterntalern“, der vermutlich einzigen Zen-Geschichte der deutschen Romantik – nur symbolischer Natur: jetzt, nach dem Tod der Hexe, können sie endlich jenes freie, selbstbestimmte, edelsteinfunkelnde Leben als geliebte Kinder führen, das ihnen von Natur aus gebührt. Obwohl die abschließende Formulierung „Die Mutter aber war gestorben“ letztlich überflüssig ist, denn wir haben es ja selbst gehört oder gelesen und „miterlebt“, scheint der eigentümliche Satz in seinem umgangssprachlichen Doppelsinn umso tröstlicher und kann somit als letzte Bekräftigung der von den Kindern vollführten Aufgabe gelten: die böse Mutter wäre und bliebe für die beiden Geschwister wie für ihren reumütigen Vater selbst noch als Lebendige „gestorben“ im Sinne einer abgeschlossenen Vergangenheit, mit der man sich schon aus Gründen der eigenen Seelenökonomie nicht mehr beschäftigen sollte.

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