Über den Verbleib der bösen Mutter im Märchen
Als Hänsel und Gretel den
dunklen Wald ihrer furchtbaren inneren Reise verlassen und das
Wasser des Unbewussten auf dem Rücken einer weißen Ente überqueren, schließt der dankbare Vater
seine beiden Kinder erleichtert in seine Arme und heißt sie freudig
willkommen. Wo aber ist seine hartherzige Frau geblieben, die böse
Mutter der Urfassung von 1812 bzw. die Stiefmutter der späteren
Fassungen, die ihren Mann überredet hatte, die beiden gemeinsamen
Kinder im tiefen Wald auszusetzen, damit sie sich verirren oder gar
sterben und das arme Ehepaar auf ihre Kosten künftig ein
unbeschwerteres Leben führen kann und nicht länger hungern muss?
„Die Mutter aber war gestorben“, heißt es am Ende ganz lapidar.
Trotzdem haben sich viele Leser und Interpretatoren dieses archetypischen
Ur-Märchens immer wieder die Frage gestellt, was genau aus dieser
von Grund auf bösen Frau geworden sein mag, die kaltblütig ihre
Kinder opferte, und welches unbekannten Todes sie gestorben ist.
Wenn man das Märchen von
Hänsel und Gretel als große innere Handlung einer gewaltigen, von
den beiden Kindern gemeinsam zu leistenden psychischen Aufgabe
interpretiert, deren einzelne Stationen wie in einem intensiven Traum
erstaunlich klar und folgerichtig und in geradezu
unmissverständlicher Deutlichkeit vor uns liegen, kann die
anfängliche Überraschung kaum größer sein als die nachhaltig
überwältigende Erkenntnis, dass wir uns die ganze Zeit über von
einer vollkommen falsch formulierten Frage haben in die Irre führen
lassen. Das Schicksal der bösen (Stief-)Mutter wird uns doch ganz
konkret und überdeutlich im Märchen selbst geschildert, wir müssen
gar nicht darüber spekulieren: Hänsel und Gretel haben sie in
Gestalt der Hexe in den Ofen geschoben, wo sie unter furchtbarem
Geschrei und Gejammer bei lebendigem Leib verbrannt ist. Die
Figur der Hexe im dunklen Wald des Unbewussten kann zweifellos nichts
anderes sein als eine besonders deutliche Vergegenwärtigung der
(Stief-)Mutter, deren Bösartigkeit allerdings nun erst besonders
augenscheinlich geworden ist.
Da schien der Mond hell und die weißen Rieselsteine glänzten wie lauter
Batzen. Hänsel bückte sich und machte sich sein ganz Rocktäschlein voll
davon, so viel nur hinein wollten, dann ging er zurück ins Haus: „tröste
dich, Gretel, und schlaf nur ruhig,“ legte sich wieder ins Bett und
schlief ein.
Es gibt im Text des
Märchens zahlreiche Hinweise, dass seine innere Logik der eines
bedeutsamen Traumes folgt. Ein Traum, der uns eine dem wachen
Bewusstsein noch verborgene Erkenntnis mitteilen will, arbeitet stets
mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Symbolen, die sich zwar von
Situation zu Situation verändern oder oft auch graduell verstärken
können, aber in der Regel stets dieselbe Aussage wiederholen – und
zwar (sofern wir den Traum aushalten) so lange, bis wir ihre
Bedeutung für uns selbst erkennen und deuten können. Hänsel
und Gretel versuchen die Begegnung mit der wahren Gestalt ihrer
Mutter, wie sie ihnen später im Wald als Knusperhexe erscheint,
zweimal zu vermeiden – zu verdrängen eigentlich: indem Hänsel
zunächst eine Spur aus Kieselsteinen legt, die die beiden Kinder
schließlich nach Hause führt, und beim zweiten Mal eine aus
Brotkrümeln, die von Vögeln und anderen Tieren des Waldes gefressen
und somit beseitigt wird. Nun können sich die beiden Geschwister der
großen, von ihnen zu vollführenden Aufgabe endgültig nicht mehr
entziehen.
Hänsel und Gretel erschracken so gewaltig, daß sie fallen ließen, was sie in der Hand hielten, und gleich darauf sahen sie aus der Thüre eine kleine steinalte Frau schleichen. Sie wackelte mit dem Kopf und sagte: „ei, ihr lieben Kinder, wo seyd ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollts gut haben,“ faßte beide an der Hand und führte sie in ihr Häuschen.
Doch obwohl Hänsel und
Gretel nun „mutterseelenallein“ sind, auf sich selbst
zurückgeworfen, drängt gerade jetzt die grausame Mutterfigur noch
einmal mit übersteigerter Wucht zurück in den Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit, so dass sie nicht mehr ignoriert werden kann,
zunächst jedoch als letzte verzweifelte Täuschung: hatten die
beiden Geschwister kurz zuvor noch ihre letzten Brotkrümel
weggeworfen, um eine sinnlos-vergängliche Spur in ihr altes Leben zu
legen, das inzwischen unerreichbar ist, stehen sie plötzlich ganz
unverhofft vor einem ganzen Haus aus Brot. Das dort wohnende gute
alte Mütterchen, das sie zunächst so gastfreundlich mit Milch,
Pfannkuchen und Nüssen bewirtet, entpuppt sich schon bald als böse
alte Hexe, die sich im wahrsten Sinne des Wortes von den beiden
Kindern ernähren will: Hänsel soll gekocht, Gretel gebraten werden.
Nun lässt sich die bahnbrechende Erkenntnis nicht mehr verdrängen,
die beiden Geschwister müssen handeln und sich radikal von der bösen
Mutterfigur befreien. Gretel gelingt es, die Hexe zu überlisten, so
dass am Ende jene statt ihrer selbst im Ofen verbrennt.
Der Reichtum aus
Edelsteinen und Perlen, den Hänsel und Gretel im Hexenhaus
vorfinden, ist allerdings – ähnlich wie im Märchen von den
„Sterntalern“, der vermutlich einzigen Zen-Geschichte der deutschen
Romantik – nur symbolischer Natur: jetzt, nach dem Tod der Hexe,
können sie endlich jenes freie, selbstbestimmte, edelsteinfunkelnde
Leben als geliebte Kinder führen, das ihnen von Natur aus gebührt.
Obwohl die abschließende Formulierung „Die Mutter aber war
gestorben“ letztlich überflüssig ist, denn wir haben es ja selbst
gehört oder gelesen und „miterlebt“, scheint der eigentümliche
Satz in seinem umgangssprachlichen Doppelsinn umso tröstlicher und
kann somit als letzte Bekräftigung der von den Kindern vollführten
Aufgabe gelten: die böse Mutter wäre und bliebe für die beiden Geschwister wie für ihren reumütigen Vater selbst noch als Lebendige
„gestorben“ im Sinne einer abgeschlossenen Vergangenheit, mit der
man sich schon aus Gründen der eigenen Seelenökonomie nicht
mehr beschäftigen sollte.
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