Jerusalem

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Donnerstag, 7. Januar 2016

„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“

Wenn bei einer Buchneuerscheinung der Anhang mehr Platz einnimmt als der eigentliche Text, muss das den Leser unwillkürlich misstrauisch stimmen, glaubt er doch schon vor der eigentlichen Lektüre zu ahnen, dass der Text ohne seinen umfangreichen Erläuterungsapparat möglicherweise nicht als eigenständiges Werk zu bestehen vermag, sondern dringend weiterführender Erklärung oder gar wissenschaftlicher Einordnung bedarf, um überhaupt verstanden werden zu können. Die von ihm selbst zu investierende Mühe, wäre dann im Verhältnis zum erwartenden intellektuellen Gewinn unter Umständen zu groß. Diese wohlabgewogene Sorge ist allerdings im Fall des im Jahr 1995 unter abenteuerlichen Umständen wiederentdeckten und 2014 in den USA erstmals veröffentlichten Tagebuchs der zum Zeitpunkt der Niederschrift vierzehnjährigen polnischen Jüdin Rywka Lipszyc über ihre Leidenszeit im Ghetto von Lodz vollkommen unbegründet. 



Dabei lohnt es sich nicht nur, über den eigentlichen Inhalt des Tagebuchs zu sprechen, dessen absolute Chronologie etwa sechs Monate im Jahr 1944 umfasst, sondern auch den verstörend unfertigen Lebensweg seiner jugendlichen Autorin nachzuverfolgen sowie die Geschichte der abenteuerlichen Auffindung ihres Textes und seines Wegs zur erfolgreichen Publikation zu erzählen. Rywka Lipszyc wurde 1929 in Lodz geboren, einer wirtschaftlich florierenden multikulturellen Großstadt, deren jüdischer Bevölkerungsanteil vor dem Zweiten Weltkrieg ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte. Ihre Familie war streng orthodox, ein Onkel von ihr hatte viele Jahre lang als geachteter Oberrabbiner von Lodz gewirkt. Die Einrichtung des sogenannten Ghettos Litzmannstadt durch die Nationalsozialisten, eines der größten abgetrennten jüdischen Wohnviertel im besetzten Osteuropa, das heute zu Unrecht als weniger berüchtigt gilt als das von Warschau, veränderte das Leben der dort wahllos zusammengepferchten Juden auf katastrophale Art und Weise, denn die Besatzer hatten für ihre schändlichen Zwecke einen unterentwickelten Stadtbezirk ausgesucht, dessen Wohnraum der Einwohnerzahl nicht nur vollkommen unangemessen war, sondern nicht einmal ein funktionierendes Abwassersystem aufwies.

Gestern Abend habe ich mich mit Minia gestritten, ich weiß gar nicht mehr, worüber (es ging um einen Stuhl), ich weiß nur noch, dass ich mich sehr aufgeregt habe und weinen wollte, als ich im Bett war. Zum Glück konnte ich weinen, aber nur ein bisschen. Ich wäre wirklich am liebsten gestorben. Ich habe wirklich versucht, mich wieder zu beruhigen, aber ich habe das Leben satt. Ich habe gedacht: Ich weiß, dass ich jetzt, wo ich gern sterben würde, nicht sterben werde. Ich werde sterben, wenn ich leben möchte, wenn ich etwas haben werde, wofür sich zu leben lohnt. Wozu braucht man solch ein Leben? Wäre es nicht besser, man würde sterben, wenn man nichts hat, wofür man lebt, als dann, wenn man leben möchte? Aber auf all diese Fragen konnte ich keine Antwort finden.

Die hermetische Abriegelung des Ghettos durch die Deutschen bewirkte zum einen, dass Flucht oder auch nur Informationsaustausch mit den äußeren Stadtbezirken nahezu unmöglich war, zum anderen, dass sich Krankheiten und Seuchen von Anfang an fast ungebremst ausbreiten konnten – selbst ein minder schwerer grippaler Infekt konnte sich unter diesen Umständen leicht zu einer Epidemie auswachsen, die innerhalb weniger Wochen die vom jüdischen Ghettoverwalter Chaim Rumkowski organisierten Manufakturen fast vollkommen zum Erliegen zu bringen vermochte, in denen er, vermeintlicherweise um die Bevölkerung zu schützen, sogenannte kriegswichtige Waren herstellen ließ. Nach dem Tod von Rywkas Vaters an den Spätfolgen einer massiven Misshandlung durch marodierende Nazis in den Tagen der Eroberung der Stadt, dem krankheitsbedingten Tod ihrer Mutter sowie der Deportation zweier ihrer Geschwister fand die Vierzehnjährige mit ihrer jüngeren Schwester Cipka wenig liebevolle Aufnahme im trostlosen Frauenhaushalt ihrer Tante und deren Töchtern, der von Neid und Missgunst geprägt war.


Fußgängerbrücke im "Ghetto Litzmannstadt"/Bundesarchiv, Bild 101I-133-0703-20

Durch die immer noch hilfreiche, nachhaltige Prominenz ihres verstorbenen Onkels, des ehemaligen Oberrabbiners, gelang es dem aufgeweckten Mädchen schnell, durch eigene Initiative an eine der begehrten und privilegierten Stellen in einer Kleiderfabrik zu gelangen, in deren Rahmen junge Frauen nicht nur zu Schneiderinnen ausgebildet wurden, sondern während ihrer Arbeitszeit von zehn Stunden und mehr auch eine gewisse rudimentäre Schulbildung erhielten. In den Abendstunden nahm sie regelmäßig an einem Literaturkreis älterer Mitschülerinnen teil, der ihr unter den ungünstigen Rahmenbedingungen im Ghetto dennoch wichtigen Raum zur geistigen Entwicklung eröffnete. Ihr ergreifend ehrliches, emotionales Tagebuch, in dem sie immer wieder auch ihre Herzensfreundin Surcia direkt anspricht, diente der Heranwachsenden vor allem als dankbares Mittel zur Selbstvergewisserung in einer feindlichen Welt, die aus der Perspektive ihrer bisherigen gut behüteten, tief religiösen Lebenserfahrung kaum mehr zu begreifen war.

Liebe Surcia!
Manchmal denke ich, das Leben ist ein dunkler Weg. Auf diesem Weg gibt es zwischen den Dornen auch andere, zartere Blumen. Diese Blumen haben kein besonderes Leben, sie leiden wegen der Dornen. Manchmal beneiden die Dornen die anderen Blumen um ihre Schönheit und setzen ihnen noch mehr zu. Und die Blumen werden entweder selbst zu Dornen oder leiden still und gehen weiter auf der Dornenstraße. Nicht alle schaffen es, doch wenn sie durchhalten, werden sie dafür belohnt. Ich glaube, das passiert nicht oft, aber ich denke, dass jeder wahre Jude auf ein Ziel zustrebt, still und leidend zugleich. Außerdem denke ich, das Leben ist schön und schwer, man muss zu leben wissen. Beneidenswert sind die Menschen, die viel gelitten haben, die durchs Leben gegangen sind und im Kampf mit dem Leben gesiegt haben. Surcia, solche Menschen (wenn ich etwas über solche Menschen lese oder höre) machen mir Mut. Ich merke dann, dass ich weder die Einzige noch die Erste bin, dass ich hoffen kann. Aber ich schreibe nicht über mich.

Doch auch der schwer fassbare Schmerz und die vielfältigen Verunsicherungen des Erwachsenwerdens, noch gesteigert durch den schwelenden Streit mit ihrer Cousine um zahlreiche alltägliche Nichtigkeiten sowie ihr fundamentales Verlassenheitsgefühl nach der Deportation und dem Tod ihrer Eltern nehmen wichtigen Raum in Rywkas Aufzeichnungen ein. Daneben spüren wir stets das tiefe, rührend wahrhaftige innere Anliegen der jugendlichen Autorin, trotz der widrigen Umstände auch vor sich selbst ein gottgefälliges, moralisch vorbildliches Leben aufrecht zu erhalten und ihrer jüngeren Schwester ein sicherer familiärer und freundschaftlicher Rückhalt zu sein. Dabei erkundet sie für sich selbst und in Gesprächsrunden mit ihren Kameradinnen auch die zahlreichen, bereits seit Jahrzehnten lebhaft diskutierten Möglichkeiten, wie ein traditionelles jüdisches Leben auch jenseits einer vorwiegend religiösen Definition aussehen könnte.

Näherinnen in der Kleiderfabrik, 1941/Bundesarchiv, Bild 101I-133-0719-13

Im Winter 1943/44 lassen die Nationalsozialisten die Lebensbedingungen im Ghetto weiter eskalieren. Die Lebensmittelrationen werden stetig reduziert, Arbeiter mit Sonderschichten verlieren nach und nach ihre Privilegien, und die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager werden häufiger und regelmäßiger. Wir müssen davon ausgehen, dass Rywka kurze Zeit nach ihrem abrupt abgebrochenen letzten Tagebucheintrag am 12. April 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Ihre Aufzeichnungen wurden im Frühjahr 1945 von Angehörigen der Roten Armee in den Ruinen des Konzentrationslagers gefunden – die Heranwachsende hatte sie offensichtlich als wertvoll genug angesehen, um sie auf ihrer Reise mitzuführen, obwohl die Nazi-Bürokraten nur ein äußerst geringes zulässiges Gesamtgewicht für Reisegepäck definiert hatten. Eine russische Stabsärztin nahm das Tagebuch nach dem Krieg mit nach Sibirien, von wo aus sie ohne Erfolg zahlreiche Versuche unternahm, Rywkas Text ins Russische übersetzen zu lassen. Mit ihrem Nachlass gelangte das Manuskript schließlich in die USA. Dem Engagement der langjährigen Archivarin des Holocaust Center of Northern California, Judy Janec, ist es zu verdanken, dass Rywka Lipszyc‘ Aufzeichnungen heute nicht nur in gedruckter Form vorliegen, sondern auch um einen eindrucksvollen Anhang erweitert wurden, in dem sich neben renommierten Historikern auch Rywkas überlebenden Verwandten mit ihren Erinnerungen zu Wort melden.

Weißt Du, manchmal, wenn es mir sehr schlecht geht, bewundere ich das Leben. Dann komme ich ins Grübeln. In ein und demselben Moment weinen Menschen, andere lachen, wieder andere leiden usw. Manche werden geboren, andere sterben, wieder andere sind krank usw. Die geboren werden, wachsen heran und reifen, um wieder zu leben und zu leiden. Und doch wollen alle leben, unbedingt leben, und jeder, der lebt, hat Hoffnung (vielleicht manchmal unbewusst), und obwohl das Leben schwer ist, ist es schön. Das Leben hat einen seltsamen Reiz. (Aber ich sage Dir die Wahrheit, dass ich jetzt gar nicht mehr leben will, ich habe einfach keine Kraft mehr, gleich lege ich mich schlafen und am liebsten möchte ich gar nicht mehr aufstehen.)

Dabei scheint es durchaus fragwürdig, die Buchausgabe anstatt mit dem voll und ganz für sich selbst sprechenden Tagebuchtext mit einem sehr umfangreichen, allerdings auch sehr erhellenden Vorwort des Historikers Fred Rosenbaum beginnen zu lassen. Unabhängig von den unbestrittenen Meriten eines ausgewiesenen Holocaust-Experten besitzt ein autobiografischer Text (der in diesem Fall von der Autorin niemals zur Veröffentlichung vorgesehen war, worin eine zusätzliche Problematik besteht, über die wir gewöhnlich aus dokumentarischen Erwägungen einfach hinweggehen) immer auch eine Dimension, die sich besonders dem historisch interessierten Leser von ganz allein erschließt, ohne dass er besondere Mühe darauf verwenden müsste. Jede Stimme jedes einzelnen Opfers sollte gehört und verstanden werden – allein daraus erschließt sich seine ganz spezifische verlorene Lebenswelt, und allein dadurch wird das Ausmaß des von den Nationalsozialisten entfesselten Schreckens deutlich.  Dass dem Leser hier schon vor der eigentlichen Lektüre gewissermaßen vorgeschlagen wird, wie er das Tagebuch Rywka Lipszyc‘ aufnehmen sollte, hat trotz der angebotenen Faktenfülle einen unangenehm arroganten Beigeschmack.

Mahnmal am Deportationsbahnhof Radegast, Lodz/Foto: Piotr Matyja

Ohne Frage sollten wir niemals aufhören danach zu streben, unsere Vergangenheit verstehen zu wollen. Allerdings scheint es fragwürdig, sie mit unserer Deutung gleichzeitig auch für abgeschlossen zu erklären – dazu ist die Vergangenheit zu komplex. Rywkas Geschichte indes ist mit dem Tagebuchtext noch lange nicht auserzählt. Wir wissen, dass sie die Konzentrations- und Todeslager, schwer vom Typhus gezeichnet, überlebt hat und sich nach dem Krieg in Lübeck auf die Auswanderung nach Schweden vorbereitete. In einem Krankenhaus der Hansestadt verliert sich ihre Spur, und alle Versuche, sie wieder aufzunehmen, sind seither gescheitert. Es existiert weder eine Sterbeurkunde noch ein Grab noch gibt es Hinweise, dass sie unter anderem Namen vielleicht doch weitergelebt haben könnte. Dieses spurlose Verhallen einer verfolgten, misshandelten Seele mit all ihren unschuldigen, reinen Plänen, Hoffnungen und Träumen macht Rywkas Schicksal noch unerträglicher.

„Das Tagebuch der Rywka Lipszyc“, aus dem Polnischen und Englischen von Bernhard Hartmann, erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, 237 Seiten, € 22,95

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