Jerusalem

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Sonntag, 11. September 2016

Die Burka als geistige Herausforderung

In seinem faszinierenden Bestseller „Der Tuareg“, einem der meistverkauften Romane der achtziger Jahre, beschrieb der spanische Journalist und Schriftsteller Alberto Vazquez Figueroa die fundamentale Tragik, die sich für die Lebensentwürfe des Einzelnen aus dem Zusammenprall der westlichen Weltanschauung mit traditionellen Lebensweisen zwangsläufig ergeben muss. Sein enigmatischer Protagonist, ein stolzer und mutiger Krieger aus dem rätselhaften Volk der Tuareg, das der Saharahitze jahrhundertelang erfolgreich getrotzt und unter den lebensfeindlichen Bedingungen der Wüste eine sehr charakteristische, nomadisch geprägte Lebensweise sowie vollkommen eigenständige Sitten und Moralvorstellungen entwickelt hat, wird nach dem von ihm selbst in der Weite der Wüste gänzlich unbemerkt vonstattengegangenen Rückzug der Franzosen unverhofft mit der Realität eines neugegründeten arabischen Nationalstaats konfrontiert, der wie selbstverständlich seine neugewonnene Unabhängigkeit im besten Willen auch auf die innerhalb seines Territoriums lebenden Mitglieder der Tuareg-Stämme ausdehnen will, um ihnen, wie er meint, die Segnungen des Fortschritts zu bringen.

Tuareg in Libyen/Foto: David Stanley

Der stolze Titelheld, ein zeitgemäßes Idealbild des „edlen Wilden“, wie ihn Autoren des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder mehr oder weniger geglückt beschrieben haben, zeigt jedoch an der von den neuen Herrschern propagierten Ordnung keinerlei Interesse und möchte um jeden Preis an der von seinen Vorfahren überlieferten, den Lebensbedingungen in der Sahara perfekt angepassten Lebensweise und seiner umfassenden persönlichen und geistigen Freiheit, festhalten. Zu den Dingen, die seiner Kultur absolut heilig sind, gehört die bedingungslose Gastfreundschaft gegenüber Fremden, und so gewährt er eines Tages zwei abgekämpften, dem Verdursten nahen Reisenden Unterschlupf in seinem Zelt. Am nächsten Tag steht eine Militärkolonne vor seinem Lager und fordert die Auslieferung seiner beiden Gäste, zweier geflohener Gefangener, die sich als der vor kurzem mit Hilfe eines Militärputschs gestürzte, ehemalige Staatspräsident und einer seiner Vertrauten herausstellen.

Wie kannst du dein ganzes Leben davon abhängig machen, was dir andere befehlen?“, fragte er. „Wie kannst du dich als ein freier Mann fühlen, wenn du dich einem fremden Willen unterwirfst? Wenn sie zu dir sagen: 'Verfolge einen Unschuldigen!', dann verfolgst du ihn. Und wenn sie dir befehlen: 'Lass diesen Hauptmann in Ruhe, auch wenn er ein Mörder ist!', dann lässt du ihn in Ruhe. Ich verstehe dich nicht!“
Das Leben ist nicht so einfach, wie es hier in der Wüste aussieht.“
Warum bleibt ihr denn nicht weg mit eurer Lebensart? Hier wissen wir immer, was gut, schlecht, gerecht oder ungerecht ist“, sagte Gacel.

Als der Tuareg sich gemäß seiner Stammesethik weigert, seine beiden Gäste auszuliefern, werden diese auf Befehl des kommandierenden Offiziers kurzerhand mit Gewalt aus den Zelten gezerrt. Einer von ihnen, der jüngere, wird auf der Stelle erschossen, während man den ehemaligen Präsidenten erneut gefangen nimmt und in der Kolonne abtransportiert. Alberto Vazquez Figueroas Buch beschreibt die abenteuerliche Rache des Tuareg-Kriegers, die die willentliche, brutale Missachtung der Tuareg-Moralvorstellungen durch die neuen Herrscher unaufhaltsam heraufbeschworen hat und die mit Blutrache nur unzureichend beschrieben wäre. Nach einem nervenzehrenden Versteckspiel im unwirtlichen Territorium des Jägers, in dem der Tuareg seine schwer bewaffneten und motorisierten Feinde ein ums andere Mal düpiert, muss sich dieser zum Showdown schließlich in die Landeshauptstadt wagen. Zu seiner vertrauten Ethik gehört es, niemals seinen Gesichtsschleier abzulegen, denn sein Stolz verbietet es ihm, Fremden sein Gesicht zu zeigen.


Tuareg in Algerien/Foto: Akly

Im städtischen Umfeld erkennt er jedoch schnell, dass er hier auf seinen gewohnten Gesichtsschleier verzichten muss, um in der Menge nicht aufzufallen – nicht zuletzt ist sein Schleier das einzige Charakteristikum, das den nach ihm fahndenden Behörden bislang bekannt ist. Ohne seinen Schleier fühlt er sich jedoch vollkommen entblößt und angreifbar, und auch seine vertraute, traditionelle Ethik hilft ihm hier nicht weiter. Nachdem eine Polizeistreife ihn angeschossen hat, braucht er Wochen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er ist bereits nahe daran aufzugeben und in seine Heimat zurückzukehren, da bietet sich ihm eine unverhoffte, von ihm als schicksalhaft erkannte Chance, seine als notwendig empfundene Vergeltung doch noch umsetzen. Sein tragisches, fundamentales Scheitern ist jedoch so umfassend und endgültig, dass es schließlich nur noch Verlierer gibt, nicht nur in individueller, sondern auch in kollektiver Hinsicht, denn beide Kulturen stehen am Ende ärmer da, weil sie nicht bereit waren, einander zu verstehen zu lernen.

Manchmal frage ich mich, wie wir zusammen in demselben Land leben können, wo uns doch so wenig verbindet.“ Als er fortfuhr klang es, als redete er mit sich selbst: „Das ist wohl ein Teil der Erbschaft, die uns die Franzosen hinterlassen haben. Sie haben willkürlich bestimmt, dass wir ein einziges Volk zu sein hätten. Jetzt, zwanzig Jahre danach, sitzen wir da und versuchen vergeblich, uns gegenseitig zu verstehen.“
Das wissen wir schon lange“, meinte Hassan-ben-Koufra mit müder Stimme. „Wir alle wissen seit langem Bescheid, aber niemand von uns kam auf den Gedanken, auf etwas zu verzichten, das uns nicht zustand. Niemand gab sich mit einem kleineren, stabileren Land zufrieden...“ Er öffnete und schloss mehrmals beide Hände, verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. „Der Ehrgeiz machte uns blind. Wir wollten immer mehr Land, obwohl wir wussten, dass wir es nicht regieren konnten. So erklärt sich unsere Politik: Da wir es nicht schafften, die Beduinen zur Anpassung an unsere Lebensweise zu zwingen, mussten wir sie vernichten. Aber was hätten wir getan, wenn die Franzosen wenige Jahre zuvor angefangen hätten, uns auszurotten, weil wir uns weigerten, ihre Lebensform zu übernehmen?“

Die sogenannte Burka-Debatte, ein klassisches Scheingefecht populistischer kultureller Hegemonie, ist ein so dankbares Thema für unsere Gesellschaft in ihrem aktuellen Stadium, zu dem offenbar jeder etwas beizutragen weiß, ob AfDler, Feministin oder „normaler“ Bürger, weil sie unser Selbstverständnis anzugreifen scheint, dass nur ein Mensch, der möglichst alles von sich zeigt, ein vollständiger, „guter“ Mensch sein kann. In unserer blinden Wut, sogar mittels Tattoos oder Piercings selbst jenes als Schrammen unserer Seelen für jedermann sichtbar nach außen zu kehren, was die natürliche Oberfläche normalerweise verbirgt, scheint es vollkommen undenkbar, dass es Menschen geben könnte, die aus freiem Willen in der Öffentlichkeit eine Vollverschleierung anzulegen bereit sind und sich auch sonst lieber ins Private zurückziehen, aus welchen Gründen auch immer. Plötzlich gibt es Menschen in unserer Mitte, die dadurch auffallen, dass sie nicht „alles“ zeigen, sondern es vor unseren gelangweilten Blicken verbergen. Dies wird offensichtlich unbewusst als Vorwurf empfunden. Könnte es gar bedeuten, dass wir nicht alle gleich sind? Wollen sich die Burkaträgerinnen von „uns anderen“ abheben, möglicherweise sogar bewusst?

Orthodoxe Juden in Wien, 1915/Foto: Wikimedia

Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts gab es kaum etwas Schlimmeres für den aufgeklärten Westeuropäer, als die osteuropäischen Chassidim mit ihren schwarzen Gewändern, merkwürdigen Pelzhüten und langen Bärten, die ein ärmliches, rückständig scheinendes, vermeintlich arbeitsscheues Leben in den Vorstädten führten. Diese wurden zum großen Teil selbst von den gut integrierten Juden als weltanschauliche Bedrohung empfunden, denn sie sahen nicht nur „anders“ aus, sondern waren auch in ihren Verhaltensweisen und ethischen Überzeugungen „anders“. Sie lehnten die weltlichen Anschauungen ihrer Aufenthaltsländer ab, sondern wollten lediglich von den stabilen politischen Verhältnissen profitieren, hier in Frieden und ohne Verfolgung leben zu können. Ein halbes Jahrhundert später, war diese Kultur von den Nationalsozialisten und ihren Helfern europaweit nahezu vollkommen vernichtet worden. Die rein gefühlsmäßige Ablehnung der Burka als Ausdruck der Angst vor dem Fremden ist mit der historischen Ablehnung der „Ostjuden“ durchaus vergleichbar.

Ich bin ein Targi, kein Dummkopf! Der Unterschied zwischen uns und euch besteht darin, dass wir Tuareg eure Welt zwar aus der Nähe betrachten, uns aber von ihr abwenden, sobald wir sie verstanden haben. Ihr hingegen nähert euch unserer Welt nicht und versteht sie darum auch nicht. Aus diesem Grund werden wir euch immer überlegen sein!

Im Bestreben, ein rationales Ventil für die instinktive Ablehnung der Burka zu finden, wird naturgemäß philosophisch tief geschürft, denn eine rein affektive Ablehnung wäre laut unserer Weltanschauung inakzeptabel. Die Burka wird hierzulande vorwiegend als Instrument männlicher Unterdrückung interpretiert, was sie in vielen Fällen zweifellos auch ist. Sie wird als Symbol des politischen Islam, gar als islamistische Provokation gedeutet. Das mag sie in manchen Fällen auch sein, aber das heißt nicht, dass sie „weg“ muss. Es passt nicht zu einer pluralistischen Gesellschaft, etwas abzulehnen oder gar zur verbieten, nur weil es „anders aussieht“ als „wir“. Die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ist den Anblick einer vollverschleierten Frau in der Öffentlichkeit nicht nur zuzulassen, sondern auch verstehen zu wollen, warum sie das tut. Einer Gesellschaft, die gelernt hat, öffentlich zur Schau gestellten Ganzkörpertattoos gegenüber indifferent zu sein, sollte das nicht schwerfallen. Wer die Burka verbieten will, weil darunter Bomben versteckt werden könnten, sollte auch Kinderwagen und Daunenjacken verbieten – ein sachliches Argument dafür wird sich sicher finden lassen. Sicher ist sicher.

Samstag, 4. Juni 2016

„Pfingstrosenrot“ von Christian Schünemann & Jelena Volić

Wie sehr ein homogen scheinendes Staatsgebilde im ungebremsten Streben nach einer einheitlichen nationalen Identität zerfallen kann, zeigt das Beispiel Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten auf ebenso aufschlussreiche wie verstörende Art und Weise. War der im Jahr 1918 neugegründete Staat Jugoslawien von Anfang an eine anspruchsvolle politische Gratwanderung zwischen den höchst verschiedenartigen Interessen seiner einzelnen Teilrepubliken, kam es nach dem Fall des Kommunismus zu einer umfassenden kriegerischen Selbstzerfleischung, deren vorläufige Klimax ohne Zweifel die Abspaltung des Kosovo von Serbien darstellt. Dabei ist das Streben nach nationaler Eigenständigkeit der betreffenden Staaten ohne deren geschichtlichen Hintergrund als unmittelbar von einer Zentralmacht abhängige und/oder tributpflichtige Vasallenstaaten am Schnittpunkt der Machtinteressen von Osmanischem und Habsburgerreich für den neutralen Beobachter kaum annähernd verständlich: es verkörpert die verständliche Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, die über einen Zeitraum von mehr als fünfhundert Jahren in dieser Region kaum existiert hatte.

Wirtschaftlich hat seither vor allem Kroatien mit seinen malerischen, touristisch attraktiven Küstenregionen von seiner neugewonnenen nationalen Eigenständigkeit profitiert, während Montenegro als vielversprechender Geheimtipp zunehmend an Boden gewinnt. Insgesamt aber haben die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten Ex-Jugoslawiens ihrem jeweiligen Außenbild im Westen nachhaltig geschadet. Insbesondere die florierende serbische Metropole Belgrad, die von Kennern immer wieder für ihre (teils morbide) Schönheit, ihr reiches Nachtleben und die weltoffene Lebenslust ihrer Bevölkerung gepriesen wird, ist hierzulande bislang nur schwer als reizvolles neues Reiseziel zu vermitteln – zu schwer wiegen offenbar die alten, von statistischen Untersuchungen immer wieder bestätigten traditionellen Vorurteile gegenüber der Bevölkerung des Balkan, die von den kriegerischen Konflikten der 1990er Jahre eher noch weiter verstärkt, wenigstens aber bestätigt worden zu sein scheinen.

Während sich Lydia auf die Suche nach ihrer Bekannten machte, trat Milena näher an das Foto heran. Hinter den Blumen war eine Ebene zu erkennen, wahrscheinlich das Amselfeld, und bewaldete Hänge, wie sie typisch waren für das Kosovo. Auf dem Amselfeld hatten die Serben vor mehr als sechshundert Jahren die Schlacht gegen die Türken verloren, eine Niederlage, die bis heute gefeiert und in alten Volksliedern besungen wurde. Bis dahin waren im Kosovo der Sitz der serbisch-orthodoxen Kirche und das politische Zentrum gewesen, daher sprach man vom Kosovo auch als der „Wiege der serbischen Kultur“. Verheerend war, dass die Albander genauso dachten, was ihre Identität und Kultur betraf, und sich als Abkömmlinge der alten Illyrer bezeichneten, der Ureinwohner dieser Region. Ein kleines Stück Land, kleiner als das deutsche Bundesland Schleswig-Holstein, war mit so viel Geschichte und Mythen beladen, und eine davon besagte, dass nur hier die Pfingstrose in solch prächtigen Rottönen blühen würde, weil der Boden mit so viel Blut getränkt ist.

Die beiden befreundeten Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Jelena Volić aus Serbien und Christian Schünemann aus Deutschland haben sich gemeinsam die lobenswerten Aufgabe gestellt, die erwähnten Vorurteile wenigstens für ein neugieriges Lesepublikum mit den vielfältigen literarischen Mitteln einer Krimiserie zu korrigieren. Ihre kommerziell bisher allerdings noch mäßig erfolgreichen Romane um die von ihrem deutschen Mann geschiedene, alleinerziehende Belgrader Kriminologin Milena Lukin bieten allerdings nicht nur intelligente und spannende Unterhaltung, sondern dienen gleichzeitig auch als aussagekräftige Sozialstudien und als subtile Werbung für die zu Unrecht unterschätzte serbische Metropole.


Belgrad/Foto: Vlada Marinković


In ihrem nun erschienenen zweiten Roman der Serie mit dem Titel „Pfingstrosenrot“ thematisiert das Autorenpaar ein bis heute ungeklärtes reales Verbrechen, das im Juli 2012 vor allem die serbische Öffentlichkeit erschütterte. Ein altes serbisches Ehepaar, das im Rahmen einer von der EU offiziell geförderten politischen Vereinbarung zwischen Serbien und der Regierung des Kosovo nach Talinovac im Kosovo zurückgekehrt war, war mittels zweier Genickschüsse aus nächster Nähe in seinem nahezu unbewohnbaren Haus regelrecht hingerichtet worden. Wer begeht ein so sinnloses Verbrechen an zwei hilflosen alten Menschen, die sich nichts anderes gewünscht haben als nach einem von Armut, Krieg und Flucht geprägten Leben ihre letzten Jahre in ihrer vertrauten Heimat zu verbringen? Alles scheint für blindwütigen nationalistischen Hass als Tatmotiv zu sprechen – das jedenfalls ist auch Milena Lukins erste Vermutung, besonders nachdem die resolute Kriminologin bei ersten eigenmächtigen Ermittlungen (vor denen sie von ihrem Partner eindringlich gewarnt worden war) im Kosovo von einer entfesselten Menge beinahe gelyncht worden ist.

Wo kommen Sie her?“, fragte Milena?
Kroatien. Operation Sturm. Wir waren unter den 250.000, die damals weg sind. Was ich sagen will: Wir waren alle noch klein, manche von uns vielleicht gerade erst geboren. Trotzdem, ich kann Goran verstehen.“ Sie machte die Augen schmal. „Und wenn ich mir vorstelle, die hätten so etwas mit meinen Eltern gemacht – ich würde durchdrehen. Ehrlich gesagt: Ich bete, dass Goran sie kriegt.“
Wen?“, fragte Milena.
Die Albaner-Schweine!“
Ja, und dann?“
Macht er sie kalt. Was denn sonst?“ Sie zückte wieder ihren Block und wandte sich lächelnd wieder einem der Gäste zu.

Nachdem sie aber die ebenso ehrgeizige wie erfolgreiche Tochter der Ermordeten sowie deren psychisch labilen, gewalttätigen Bruder und dessen langjährige Freundin kennengelernt hat, besonders aber den für die komplizierten Beziehungen zum Kosovo verantwortlichen Staatssekretär, beginnt sie langsam zu argwöhnen, dass möglicherweise ganz rationale Motive in diesem Mordfall eine viel entscheidendere Rolle spielen könnten und sich die Entscheidungsträger der beiden verfeindeten Staaten, wenn es um ihre ureigenen materiellen Interessen geht, womöglich sehr viel besser verstehen als es der äußere Schein nahelegt. Mit Hilfe ihres Gönners, des deutschen Botschafters, verschafft sich Milena Lukin Zugang zu exklusiven Zirkeln des politischen Establishments und stößt dabei auf eine bösartige Intrige, die selbst die Bürokratie der Europäischen Union ins Zwielicht rückt. Als sie sich so tief in den Fall hineinwühlt, dass sie ungewollt selbst in unmittelbare Lebensgefahrgerät, kommt ihr wieder einmal auf unvorhergesehene Art und Weise der Zufall zur Hilfe, diesmal in Gestalt ihrer eigenen Mildtätigkeit: denn wenn eine alte gebrechliche Frau ihre schweren Einkaufstaschen selbst schleppen muss, kann das die großherzige Ermittlerin ebenso schwer ertragen wie die allgegenwärtige politische Korruption, mit der sie sich auf Schritt und Tritt konfrontiert sieht.


Jelena Volić und Christian Schünemann/Foto: Nathan Beck

Während man im ersten Band der Reihe (in dem es vorrangig um serbische Kriegsverbrechen und den Einfluss des Militärs auf die Politik ging) noch deutlich die hohen Ambitionen der beiden Autoren und den Druck des ersten Romans spüren konnte, haben sie im zweiten Band zu einer sehr viel entspannteren Erzählhaltung gefunden, die der ganzen Atmosphäre des Romans ausgesprochen gut bekommt. Die Charakterzeichnung der einzelnen Personen, die Entwicklung ihrer persönlichen Motive sowie die Beschreibung der unterschiedlichen Milieus ist sehr überzeugend und der Leser hat den Eindruck, dass Milena Lukin nun vollends angekommen ist in der internationalen Krimilandschaft. Diese vermag sie mit ihrer authentischen Art, ihrer unverstellten Mitmenschlichkeit und ihrer lebensbejahenden Liebe zum Guten und Schönen (was gutes, deftiges Essen ausdrücklich mir einschließt) ausgesprochen zu bereichern. Der besondere Reiz der Reihe besteht aber eindeutig in der Erschließung eines neuen unverbrauchten Schauplatzes, der den entgegengesetzten Weg geht wie die meisten anderen vergleichbaren Krimiserien. Andrea Camilleri, Donna Leon oder Martin Walker zeigen uns, dass auch an idyllischen Sehnsuchtsorten des deutschen Lesers Verbrechen geschehen können. Jelena Volić und Christian Schünemann beweisen jedoch, dass selbst ein Ort mit schlechtem Image, dessen umfangreiche Probleme wie im Falle Belgrads unbestritten sind, Ort eines süßen Lebens sein kann.

„Pfingstrosenrot“, erschienen bei Diogenes, 356 Seiten, € 22,-

Freitag, 27. Mai 2016

Verweigerung der Teilnahme am Leben

Es ist wohl das zweifelhafte Verdienst des amtierenden russischen Präsidenten, eine längst überwunden geglaubte Politikkultur wiederbelebt und zur Nachahmung vorgelebt zu haben, die nicht auf gleichberechtigtem Dialog und ehrlicher Übereinkunft beruht, sondern allein auf Vortäuschung derselben mit dem durchschaubaren, aber niemals offen artikulierten Motiv der Zementierung eigener subjektiver politischer Zielsetzungen. Der politische Gegner mit seinen antagonistischen Zielen dient dabei nicht als Gradmesser für den eigenen Realitätsbezug oder die eigene Kompromiss- und Geschäftsfähigkeit, sondern als ultimative Bestätigung der Unvereinbarkeit eigener Positionen mit jedweden differierenden äußeren Einflüssen. Diese Art der Politik ist die gelebte Selbstisolation aus eigenem Antrieb, die unlauterer Weise jedoch zur gleichen Zeit frech behauptet, lediglich eine notwendige Reaktion auf die als extrem gebrandmarkten Ziele des politischen Gegners zu sein. Auf diese Weise wird der politische Gegner nicht nur öffentlich zum Feindbild erklärt, sondern dient gleichzeitig als allgemeine unmittelbare Rechtfertigung für das eigene Beharren auf extremen Positionen bzw. deren Implementierung gegenüber dem politischen Gegner.

Sir Wilfrid an the Extremists/Historische Karikatur, 1911

Zwei aktuelle Beispiele für diese Art der Politikführung sind das Verhältnis des Präsidenten der Türkei zur EU sowie die Einstellung der AfD zum Zentralrat der Muslime in Deutschland. Der türkische Präsident hat seit Beginn seiner politischen Karriere und schon während seines ersten bedeutenden Amtes als Bürgermeister von Istanbul nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er die Türkei (anders als viele maßgebliche türkische Politiker sowie ein nicht geringer Teil der Bevölkerung seines Landes) weder kulturell noch politisch als Teil von Europa begreift. Für ihn ist Europa ein dankbares Mittel zur Profilierung seiner Person sowie der Türkei als bedeutende regionale politische Macht. Dass sein Bestreben, in der Türkei ein auf seine Person zugeschnittenes Päsidialsystem zu schaffen, ihn und sein Land lang- und mittelfristig von Europa isolieren muss, ist dabei sein grundlegendes Kalkül: Europa wird den umstrittenen Flüchtlingsdeal ebenso aufkündigen müssen wie alle anderen Assoziierungsabkommen. Wenn Europa diesen Schritt aus diplomatischen Erwägungen nicht wagt, wird der Präsident ihn selber beschreiten. Dabei befindet er sich in der komfortablen Situation, in jedem Fall behaupten zu können, es läge am elitären Dünkel Europas, welches die Türkei nicht als gleichberechtigten Partner akzeptiere. Hier hat Europa möglicherweise eine kapitale Chance vertan, als die geeigneten Ansprechpartner auf türkischer Seite noch existierten.

Exakt dieselbe Strategie verfolgt die AfD – nicht nur im Verhältnis zum Zentralrat der Muslime in Deutschland, mit dem ein „Gesprächsversuch“ gestern erwartungsgemäß medienwirksam scheiterte. Die absurde Behauptung der AfD, mit Vertretern einer Religionsgemeinschaft, die sie selbst mit all ihren spezifischen Äußerungsformen per se ablehnt, zu einer gleichberechtigten Gesprächsgrundlage finden zu wollen, entsprach von Anfang an ihrem negativen politischen Kalkül der umfassenden kulturellen und politischen Selbstabgrenzung. Der Zentralrat hingegen nutzte die willkommene Gelegenheit ebenso medienwirksam, die AfD nicht zu Unrecht in die geistige Nähe der Nationalsozialisten und ihrer Politik der Ausgrenzung zu setzen. Mit diesem Vergleich wiederum fühlte sich die AfD nicht wohl und beklagte sich wenig überzeugend, dass der Gegner ihr „auf demokratischem Wege entstandenes“ Wahlprogramm ablehne, ohne gleichzeitig die entscheidende Frage zu beantworten, was an einem undemokratischen Programm einer der Verfassung grundsätzlich ablehnend gegenüber stehenden Partei demokratisch sein soll. Das Wahlprogramm der AfD besteht fast ausschließlich aus einer bösartigen Instrumentalisierung des ihrer Meinung nach Anderen im Hinblick auf eine negative Selbstabgrenzung zur Schaffung einer zweifelhaften „pseudodeutschen“ Identität, die realistischerweise nicht einmal mit den verbrecherischen Methoden der Nationalsozialisten erreichbar wäre.


Paul Manship: "Zyklus des Lebens"/Foto: Elizabeth Thomsen

Abgesehen davon, dass sich eine kollektive Selbstisolation meist als wesentlich verhängnisvoller erweist als eine rein private, ist vor allem eine Frage interessant: was führt einflussreiche politische Führer ebenso wie ganz normale, sich in ihrem Selbstbild ohnmächtig fühlende Durchschnittsbürger gleichermaßen dazu, ihr vermeintliches Heil ausgerechnet in der selbstgewählten Isolation zu suchen? Es ist zweifellos für jeden Menschen wichtig, seine eigenen Grenzen selbst zu bestimmen und im Alltag nicht kontinuierlich zum Überschreiten dieser Grenzen gezwungen zu sein. Er muss sich aber auch bewusst sein, dass er umso weniger fähig ist, in einer ihrem Charakter nach unvorhersehbaren oder gar chaotischen Realität zu leben, je enger er seine persönlichen Grenzen definiert. In der aktuellen Entwicklung scheinen nicht nur auf der abstrakten politischen sondern auch auf der unmittelbaren konkreten persönlichen Ebene für viele Menschen Rückzug und Isolation probate Auswege aus ihrem generellen kulturellen Unbehagen zu sein, obwohl ihnen bewusst sein muss, dass diese als typischer Merkmale der Regression letztlich zu nichts anderem als zu persönlicher und gesellschaftlicher Stagnation führen können. Die ursprüngliche kindliche Weltsicht äußert sich in einem vorurteilslosen, von Neugier getriebenen Streben nach Einheit mit allen Erscheinungsformen des Lebens, das lediglich vorübergehend durch etwaige entwicklungsbedingte Beschränkungen des Kindes begrenzt wird. Das oben beschriebene Phänomen der Selbstisolation hingegen ließe sich am einfachsten als kindische Weltsicht beschreiben, als selbstauferlegte Beschränkung aus Angst vor dem Unbekannten, Chaotischen und Neuen und als unzulängliche Flucht in die unerreichbare Behaglichkeit des Vergangenen: die Verweigerung, aktiv am Leben teilzunehmen. Was könnte es Traurigeres geben?

Mittwoch, 27. April 2016

„Pici“ von Robert Scheer

Die internationale Literaturlandschaft hat bereits eine große Anzahl treffender und aufwühlender Berichte über den Leidensweg einzelner Personen oder Gruppen innerhalb der monströsen Tötungsmaschinerie des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs hervorgebracht. Diese schmerzvolle Vergegenwärtigung jener uns heute selbst noch in kleinsten Details auf qualvolle Weise in größtem Detailreichtum bekannten, jedoch kaum annähernd mit Worten wiederzugebenden Verbrechen am europäischen Judentum ist vollkommen richtig und absolut notwendig, denn anders als die sittlich und moralisch verrohten Nationalsozialisten, in deren menschenverachtender, emotional und geistig vollkommen unreifer Ideologie die Vorstellung vom Individuum keinen Platz hatte und nur das Wohl der imaginäre Elite ihrer auserwählten „Volksgenossen“ zählte, besteht selbst ein kollektives Schicksal wie das der verfolgten Juden innerhalb der Schoah aus unendlich vielen Einzelschicksalen, die sich trotz des für sie von ihren schamlosen Verfolgern unerbittlich vorgezeichneten Wegs in die fabrikmäßige Ermordung zum Teil erheblich voneinander unterschieden.



Nicht weniger als sechs Millionen jüdische Todesopfer haben wir als Folge des zügellosen zwölfjährigen Wütens der Nationalsozialisten zu beklagen, dessen gefühlter Schaden locker für die sprichwörtlich gewordenen „tausend Jahre“ ausreicht, die Hitlers Deutschland nach eigenem Bekunden bestehen bleiben wollte: Mehr sinnlos hingemordete unschuldige Menschenleben als moderne Staaten wie Dänemark, Jordanien oder Neuseeland heute an Einwohnern zählen. Allein wenn man diese unermessliche, im Grunde staatstragende Zahl in Ziffern wiedergibt: 6.000.000, bekommt man eine erste furchtbare Ahnung ihrer Tragweite. Aber um wirklich zu begreifen, über was für ein ungeheuerliches, monströses Verbrechen wir hier reden, sollte man einmal ernsthaft versuchen, die absolute Opferzahl als Strichliste wiederzugeben, besser noch jedoch als Namensliste. (Eine gute, aber vermutlich aussichtslose potentielle Strafarbeit übrigens auch für hartnäckige Holocaust-Leugner.)

Sechs Millionen nicht fertig ausgelebte Leben haben wir zu beweinen. Sechs Millionen ganz gewöhnliche Menschen mit Träumen, Plänen und mannigfaltigen sozialen Bindungen, denen von ihren grausamen Verfolgern jedes Recht abgesprochen wurde, ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben in Freiheit weiterzuführen. Denn hierin besteht das wesentliche Verbrechen der Nationalsozialisten: im millionenfachen grausamen, blindwütigen Verhindern des natürlichen Rechts ihrer unschuldigen Opfer auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, so banal und friedlich es sich unter Umständen auch zu sein träumt. Die Überlebenden mit ihren unausprechlichen, jahrzehntelang fortwirkenden Leiden und den sich daraus ergebenden vielfältigen, lebenslang anhaltenden Traumata sind in dieser ungeheuerlichen Zahl noch nicht einmal erfasst. Um aber diese unermessliche, kaum zu fassende Unzahl an Opfern – Ermordeten wie Überlebenden – dennoch wenigstens annähernd nicht nur verstandesmäßig, sondern auch emotional begreifen zu können, ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu absolut unverzichtbar, sich mit den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu beschäftigen, denn in ihnen finden wir auch uns selbst in unseren eigenen Plänen, Träumen und Wünschen am ehesten widergespiegelt.

Wie viele andere Jüdinnen und Juden ihrer Generation muss auch Pici schon als kleines Mädchen von einem Tag auf den anderen leidvoll erfahren, dass sich etwas ganz Grundlegendes in der Beschaffenheit der Welt verändert zu haben scheint. Obwohl sie selbst sich überhaupt nicht verändert hat, allenfalls ein bisschen gewachsen ist vielleicht, oder ein Jahr älter geworden, erfährt sie plötzlich völlig unvorbereitet Diskriminierung in dem Verhalten von Nichtjuden, Amtsträgern und Institutionen, blanken Hass sogar, unsanktionierte Feindseligkeit. Und trotz der sorgenvollen, gedämpften Gespräche der Erwachsenen über die politische Entwicklung in Deutschland begreift sie nicht, was plötzlich anders sein soll: Eine Jüdin war sie schon immer, seit ihrer Geburt, was immer das heißen mag, aber plötzlich darf man ihr ungehindert und ungestraft mit grundlosem, offenem Hass und handgreiflicher Feindseligkeit begegnen. Darf sie ohne jede juristische Konsequenz beschimpfen, sogar schlagen. Und trotz bester Leistungen in der Schule – die deutsche Schule darf sie nicht mehr besuchen – wird ihr immer wieder die verdiente Anerkennung verwehrt. Von staatlicher Stelle sogar, der doch normalerweise eine neutrale, unabhängige Position zu eigen sein sollte. Was für eine niederschmetternde Erfahrung für ein junges Mädchen: dass es keine Objektivität erwarten darf, dass es keine Verlässlichkeit gibt. Man hört sogar von Juden, die aus dem Zug geworfen, geschlagen oder am Bart durch die Straßen geschleift werden. Warum das alles – wer kann es begreifen? Nicht einmal die Erwachsenen können das.



Ankunft ungarischer Juden in Auschwitz/Foto: Bundesarchiv

Die Pathologie der nationalsozialistischen Weltanschauung ist voller massiver psychologischer Widersprüche. Ohne den jeder objektiven Grundlage entbehrenden, durch und durch irrationalen und paranoid übersteigerten Hass auf alles Jüdische – auch das nur angenommene, klischeehafte oder vorurteilsbehaftete – wäre  die destruktive Ideologie der Nazis sogar vollkommen undenkbar. Warum aber hat der Nationalsozialismus all seine gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen ausschließlich auf das krankhafte und in jeder Hinsicht (auch für ihn selbst) ruinöse Ziel verschwendet, das in seinen zahlreichen verschiedenen Erscheinungsformen überaus vitale und kulturell reiche europäische Judentum auzulöschen und sich die ganze zivilisierte Welt zum Feind zu machen?

Wenn ein erwachsener, reifer Mensch (oder eine Gruppe) sich aus welchen Gründen auch immer von einem anderen Menschen (oder einer anderen Gruppe) gestört oder in seinem natürlichen Streben nach Selbstverwirklichung behindert fühlt, reagiert er innerhalb einer zivilisierten, kulturell und moralisch halbwegs normal entwickelten Gesellschaft gewöhnlich, indem er den jeweiligen Gegner ignoriert und ihm aus dem Weg geht, um sich auf seine eigenen Anliegen zu konzentrieren oder ihn mit sachlichen Argumenten zu bekämpfen. Die Nationalsozialisten jedoch waren von ihrem fanatischen Antisemitismus so besessen, dass sie alle ihre Ressourcen dem einen schändlichen Ziel unterordneten, das sie in ihrem obskuren Weltbild und labilen Selbstverständnis Störende zu vernichten. Sie benötigten ihre krankhaft verzerrte Vorstellung vom Judentum dringend um die eigene Leere und tief verinnerlichte Minderwertigkeit zu kompensieren. Durch die Vernichtung des Objekts ihres Hasses hofften sie, endlich jene Bedeutung und Anerkennung zu erlangen, die jedem Menschen gebührt.

Die seriöse Geschichtswissenschaft liefert uns in eine ganze Anzahl plausibel klingender Erklärungen für das Undenkbare: autoritäre Erziehungsmodelle, der Erste Weltkrieg, Versailles, eine internationale Welle irrationaler Phänomene und der Esoterik, Weimar, Weltwirtschaftskrise, Verschwörungstheorien, Untertanengeist, blinder Gehorsam und der deutsche Hang zur unbedingten Pflichterfüllung – die Liste ließe sich mit Leichtigkeit endlos fortsetzen. Ohne Zweifel: das alles sind seriöse Erklärungsversuche, die in irgendeiner Art und Weise zur Katastrophe beigetragen haben mögen, doch für sich allein betrachtet ist keine einzige davon weder befriedigend noch akzeptabel. Es bleibt uns vor dem Panorama der Zerstörung keine andere Zuflucht als verzweifelt zu konstatieren: die monströsen Ereignisse, von denen wir hier sprechen, sind ohne jede Parallele in der menschlichen Geschichte. Es gibt zum Glück Überlebende dieser von Menschen geschaffenen irdischen Hölle. Aber eines Tages wird es sie aus natürlichen Gründen nicht mehr geben. Deshalb müssen ihre Berichte und Selbstzeugnisse veröffentlicht, gehört und verstanden werden. Diese Arbeit ist eine bedeutende kollektive Arbeit, der sich niemand zu entziehen versuchen sollte, denn ein Erzähler ist zwar nichts ohne Zuhörer, aber der gewöhnliche Nur-Zuhörer ist auch nichts ohne einen qualifizierten, moralisch integren Erzähler.

Ravensbrück, Krematorium/Foto: Norbert Radtke

Wer heute, nach allem, was wir über die Verbrechen der Nationalsozialisten wissen, allen Ernstes behauptet, es sei genug, man solle endlich einmal mit der Vergangenheit abschließen, wie regelmäßige repräsentative Erhebungen renommierter Forschungsprojekte unabhängiger Träger es einer wachsenden Anzahl deutscher Bürger jeden Alters bescheinigen, beweist mit seiner dummen Aussage nur, wie sehr und wie abgrundtief ihn das Wissen um das Geschehene in Wirklichkeit selbst betrifft: so sehr nämlich, dass es bis heute unverarbeitet wie ein rostiger Nagel in seine eigene unbewusste Gegenwart hineinragt, so sehr, dass er es nicht mehr hören zu können glaubt. Doch nur wer die Fehlentwicklungen der Vergangenheit aufmerksam studiert und Zusammenhänge zu begreifen lernt, kann angesichts der Herausforderungen der Gegenwart handlungsfähig bleiben. Offene Augen und wache Sinne sind wir Lebendigen von heute den Ermordeten schuldig, denn das haben sie sich auch für sich selbst und ihre Familien und Freunde vermutlich am meisten gewünscht.

Picis detaillierter, tief erschütternder und dabei gleichzeitig leicht zugänglicher Bericht aus der gut informierten, mitfühlenden Feder ihres eigenen Enkels ist eine der prägnantesten und einfühlsamsten Beschreibungen ihrer Art. Robert Scheer ist es gelungen, den historischen und biografischen Gehalt von Picis Erfahrungen in eine den Leser unmittelbar ansprechende Form eines offenen Zwiegesprächs zu bringen, in dessen Verlauf es Großmutter und Enkel auf eindrucksvolle Art gelingt, das Geschehene nicht nur angemessen zu vergegenwärtigen und zu reflektieren, sondern es auf gewisse Weise sogar „wiederzubeleben“, indem sie es in einen aktuellen Kontext stellen: denn nicht nur der Enkel (als studierter Philosoph und politisch denkender Mensch) beobachtet das aktuelle Zeitgeschehen sehr genau – auch Pici zieht immer wieder ebenso überraschende wie treffende Vergleiche zwischen gestern und heute, die nicht nur ihre bittere Erfahrung der Verfolgung durch Nazi-Deutschland erkennen lassen, sondern auch ihre geistig hellwache, dem Leben zugewandte unverwechselbare Persönlichkeit, die bis zum Schluss fähig war zu differenzieren und sich eine dezidierte Meinung zu allen Erscheinungsformen eines aktiv gelebten Lebens zu bilden. Ihre persönlichen, manchmal auch im Zwiegespräch mit ihrem Enkel gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse sind nicht nur sehr präzise Beschreibungen des realen schrecklichen Geschehens auf Picis individuellem Leidensweg, sondern gleichzeitig auch intelligent herausgearbeitete aussagekräftige Thesen und unerbittliche Anklagepunkte gegenüber den nationalsozialistischen Verfolgern und ihren Verbrechen. Seine mühelose und erstaunlich subtile Vielschichtigkeit macht den Text zu einem absoluten literarischen und dokumentarischen Glücksfall, da er den Leser zu keinem Zeitpunkt überfordert, aber ihn dennoch umfassend informiert und ihn gleichsam zwischen den Zeilen wie von selbst, allein durch den dezenten literarischen Anstoß von unbewussten Assoziationsketten zu den korrekten, folgerichtigen Schlussfolgerungen leitet. 


Robert Scheer/Foto: privat

Hier wird deutlich, dass sich all jene, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten erleiden mussten, ursprünglich direkt aus unserer Mitte kamen, wie der österreichische Schriftsteller Erich Hackl vollkommen richtig immer wieder betont: sie unterschieden sich in ihrem grundsätzlichen Menschsein durch nichts von ihren Nachbarn, Arbeitskollegen oder Mitbürgern, sondern wurden von einer totalitaristisch regierenden Clique selbsternannter Herrenmenschen vollkommen willkürlich auf grausamste und schamloseste Art und Weise bis zum Äußersten ausgegrenzt, weil es den hemmungslosen Machthabern schlichtweg nützte. Mechanismen der Ausgrenzung, negativen Standortbestimmung und Überhöhung der eigenen Gruppe können wir auch heute noch beobachten, in totalitaristischen Staaten, aber auch ohne dabei über unseren eigenen Tellerrand schauen zu müssen: wir erleben diese Erscheinungsformen fast täglich in der Wirtschaft, in der Politik, mitunter sogar in unserem Privatleben. Wichtig ist es, angesichts dieser vermutlich unabänderlichen menschlichen Eigenart nicht zu resignieren und nicht eine Haltung des machtlosen Wegsehens anzunehmen. Mitgefühl, Liebe und Menschlichkeit sind heute wie gestern alternativlos.

Montag, 18. April 2016

Die Erfindung eines Feindbilds

Wie schön und bequem für die AfD und ihre Anhängerschaft, dass sie nun im bewusst  unscharf definierten Islam (als Religion? als Philosophie? als Weltverschwörung?) ganz offiziell ein kongeniales Feindbild erschaffen hat, über das sie sich auf unverwechselbare Art und Weise wirkungsvoll gegen politische Gegner und Mitbewerber abgrenzen zu können glaubt. Es ist seit jeher eines der hervorstechenden Merkmale totalitaristischer politischer Bewegungen, sich nicht etwa über positive Zielsetzungen zu definieren, sondern in der radikalen Ablehnung eines irrationalen Fremden, für die es nicht nur keinerlei objektive Vernunftgründe gibt, sondern das sie sogar selbst erschaffen hat. Die Diskreditierung eines fremden Prinzips, in diesem Fall eines nicht näher erläuterten Islam, ist immer willkürlich und dient im Wesentlichen der Bündelung von negativer Zustimmung in Form von Wählerstimmen oder im schlimmsten Falle sogar einer allgemeinen unartikulierten Stimmung innerhalb der Bevölkerung. 


Für diese negative Abgrenzung von einem scheinbar allumfassenden bösartigen Islam, den es in der von der AfD postulierten Form gar nicht gibt, findet sie in der Bundesrepublik Deutschland allerdings ideale Grundbedingungen vor: einem scheinbar modernen und weltlichen Staat, in dem seit über vierzig Jahren eine politische Partei zum maßgeblichen politischen Establishment zählt, die sich ganz selbstverständlich als „christlich“ bezeichnet, obwohl ihr namentlich zur Schau gestelltes Christentum eher ein Bekenntnis zu den humanistischen Grundwerten der jüdisch-christlichen europäischen Tradition darstellt als eine strukturelle konfessionelle Bindung. (Nach dem Zweiten Weltkrieg war das „Christliche“ die einzige noch halbwegs glaubwürdige wertkonservative Abgrenzungsmöglichkeit zu linken Weltanschauungen.) Einem Land, in dem auch heute noch die meisten staatlich vorgeschriebenen gesetzlichen Feiertage einen eindeutigen christlichen Hintergrund besitzen und sogar die meisten Schulferien in einem unverwechselbaren religiösen Zusammenhang stehen, obwohl die damit verbundenen Anlässe wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten heute meistenteils lediglich folkloristischen Charakter haben.

Zu einem unzeitgemäßen unterschwelligen Bekenntnis zu dezidiert „christlichen Werten“, die in der durchschnittlichen Bevölkerung zumindest in religiöser Hinsicht jeder Grundlage entbehren, kommt die problematische Behauptung aller monotheistischer Religionen, im Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit zu sein. Dieser radikal vermessene, im Grunde unversöhnliche (und in politischer Konsequenz letztlich kriegerische) Anspruch ist im Judentum und im Christentum genauso deutlich nachweisbar wie im Islam, auch wenn er bei diesen in der heutigen Wahrnehmung weitaus weniger ausgeprägt ist als bei jenem – ein Studium der religiösen Quellen widerlegt diesen Eindruck allerdings ebenso nachhaltig wie ein Blick in die Geschichte. Unbewusst prägt das problematische Prinzip eines einzigen wahren Gottes uns und unsere Kultur bis heute auf kaum abzuschätzende zerstörerische Art und Weise. Der in dieser Hinsicht ebenso folgerichtige wie hilflose Rückgriff der AfD auf überkommene Begriff wie Nation und Religion beweist dies nur zu deutlich. Ein Staat, der seine Bürger auch in ihrer Verschiedenheit ernst nimmt, muss vollkommen säkular oder laizistisch sein. Er darf eine Religion nicht ausgrenzen oder ignorieren, sondern muss sie voll und ganz integrieren wollen.

Mit einigem guten Willen mag man der AfD vielleicht unterstellen, dass sie einen warnenden Zusammenhang herstellen will zwischen Menschen, die aus totalitären Staaten kommend in unserer Gesellschaft Aufnahme finden, aber unsere Werte aufgrund ihrer kulturellen Prägung möglicherweise nicht teilen oder ihnen sogar feindlich gegenüberstehen. (Dieser Befund trifft übrigens nicht nur auf Menschen aus arabischen Staaten zu.) Aus diesem Konflikt können sich in der Tat Probleme ergeben, die wir keinesfalls unterschätzen sollten. Auch wenn wir davon ausgehen sollten, dass die meisten Flüchtlinge zu uns kommen, weil sie hier in umfassender persönlicher Freiheit leben können (einschließlich freier Religionsausübung), besteht durchaus die Möglichkeit, dass auch Menschen „nur“ aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Aber was wäre daran so schlimm? Eine zukünftige Mitarbeit würde ja auch eine wirtschaftliche Stärkung unserer Gesellschaft bedeuten. Schon heute gibt es ein großes Überangebot freier Arbeitsplätze, die kein arbeitsloser „christlicher“ Deutscher aus freiem Willen anzunehmen bereit wäre.


Ohne Zweifel ist jede politische Bewegung abzulehnen, die eine Religion (egal welche) mit universellem Anspruch ins Zentrum ihres politischen Handelns stellt. Eine Religion (egal welche) sollte für das politische Handeln in einem funktionierenden Gemeinwesen keinerlei Bedeutung haben, es sei denn, sie hätte entscheidende Anstöße für eine weitere Verbesserung des allgemeinen Zusammenlebens beizutragen. Die anachronistische Vorstellung, ein bestimmtes Land gehöre einem bestimmten Volk, das sich auf bestimmte Art und Weise gewissen übergeordneten Verhaltensregeln fügt, entspricht natürlich der biblischen Vorstellung eines göttlichen Auserwähltseins. Ein modernes Sozialwesen aber muss ständiger Veränderung unterworfen sein, da es sonst mittelfristig nicht überlebensfähig ist. Das heißt aber auch in letzter Konsequenz: wir können unsere Gesellschaft selbst gestalten. Die instrumentalisierte Diskriminierung des Islam und seiner religiösen Symbole auf Grundlage angeblicher christlicher Traditionen ist ebenso falsch wie unglaubwürdig und anachronistisch. Wir sollten nicht zulassen, dass die AfD „die Moslems“ zu „den Juden“ von heute macht.

Sonntag, 10. April 2016

Echolot

In der vergangenen Woche wurde in Berlin der Preis der deutschen Musikindustrie verliehen, der „Echo“. Die bewusste Verwendung eines grammatikalisch falschen Artikels soll vermutlich davon ablenken, dass es sich bei diesem symbolischen Echo nicht etwa um eine qualitative Auszeichnung handelt, mit dem besondere künstlerische Leistungen prämiert werden, sondern um das ganz real-messbare Echo des Publikums, das sich in den aufgelaufenen banalen Verkaufszahlen des vergangenen Jahres niedergeschlagen hat: der „Echo-Award“ ist die Feier bereits erzielter Umsätze, eine zweite ideelle Belohnung für den bereits erzielten materiellen Lohn, die der Künstler im besten Fall schon in Form einer „goldenen Schallplatte“ erhalten hat. Nun ist zunächst nichts daran auszusetzen, wenn eine Branche sich und ihre Erfolge publikumswirksam feiert, es gibt kaum einen Wirtschaftszweig, der nicht versucht, sich einen vergleichbaren Rahmen zu schaffen, um sich und das von ihm Geleistete für seine Begriffe auf angemessene Art und Weise zu präsentieren. Für besonders herausragende künstlerische Leistungen gibt es ja den renommierten „Preis der deutschen Schallplattenkritik“.



Dennoch scheint der „Echo-Award“ als kommerzielle Auszeichnung durchaus symptomatisch für den Zustand unserer Gesellschaft sowie unseres politischen und wirtschaftlichen Zusammenlebens. Ein bereits honorierter Erfolg ist nicht nur der größtmögliche gemeinsame Nenner, man muss sich weder inhaltliche Gedanken machen noch nennenswerten Widerspruch fürchten, da man sich durch das objektiv verifizierte, scheinbar „demokratische“ Ergebnis bereits angemessen abgesichert und bestätigt fühlt. Für das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist die Übertragung der „Echo-Gala“ somit ein idealer Quotenbringer: die auszuzeichnenden Künstler sind ja bereits die erfolgreichsten – wer sollte die nicht sehen wollen! Angesichts des Wissens um die allgemein bekannte Tatsache, dass der „Echo“ ein Kommerzpreis ist, offenbart das nun öffentlich zur Schau gestellte Befremden und die wachsende Ablehnung darüber, dass nach einer längeren irritierenden Vorgeschichte nun eine deutschsprachige Band aus Südtirol, die im begründeten Verdacht rechtsradikalen Gedankenguts steht, einen Preis in der Kategorie „Rock/Alternative“ zuerkannt bekommen hat, ein fundamentales Dilemma: Es gibt zahlreiche Hinweise, dass sich rechtes und völkisches Gedankengut unwidersprochen im gesellschaftlichen Mainstream breitmacht, aber man weiß nicht, wie man darauf reagieren soll.

Objektiv ist es richtig, dass dieser Band der Preis zuerkannt wurde: das von ihr (trotz diverser offizieller Distanzierungen) vertretende Weltbild ist ja nicht Inhalt der Vergabekriterien, sondern allein ihr kommerzieller Erfolg. Diskussionswürdiger ist da schon, dass die ARD in liebedienerischer Haltungslosigkeit die Preisvergabe an die Band in vorauseilendem Gehorsam bewusst so terminiert hat, dass diese ihr Konzert am selben Abend nicht etwa absagen oder verschieben musste und ihre Mitglieder in der sorgfältig vorbereiteten und vom Blatt abgelesenen „Dankesrede“ (die in Wirklichkeit ein einiger Vorwurf war) ihre verlogene Außenseiterposition als unverstandene aufrechte Idealisten präsentieren und der inhaltlichen Ablehnung des Preises Ausdruck verleihen konnten. Von den anderen Prämierten wurde keinerlei nennenswerte Ablehnung artikuliert – wozu auch, es hätte ja ihre eigene Auszeichnungswürdigkeit in Frage gestellt: wo kommen wir denn da hin, wenn wir jetzt plötzlich qualitative oder gar moralische Kriterien aufstellen würden, man möchte sich gar nicht ausmalen, wer dann alles ohne Preis nach Hause gehen müsste! Man darf also ohne Einschränkung behaupten, dass dieser Auftritt die Vergabepraxis des „Echo-Awards“ ad absurdum geführt hat. Vor allem aber stellt er auf drängende Art und Weise unseren gewohnten Umgang mit radikalen Positionen in Frage.


"Lügenpresse"/Foto: Opposition24.de


Nicht wenige Menschen in unserer Gesellschaft fühlen sich offensichtlich wohl in der theatralisch zur Schau gestellten, durch und durch passiven Position des unverstandenen Verlierers, der immer nur einen drauf kriegt, sei es vom Staat, vom Arbeitgeber, vom Partner oder gar von den ihrem Eindruck nach ungefiltert ins Land strömenden ausländischen Konkurrenten ums verdiente Lebensglück. Gar nicht erst zu reden von der allgegenwärtigen „Lügenpresse“. Ist eine rechtsradikale Position weniger problematisch, wenn sie zunehmend Verbreitung findet oder sogar zu einer Mehrheitsposition wird? Ist ein etwaiger allmählicher Wandel zur Mehrheitsposition der Zeitpunkt, an dem man aus falsch verstandener Beugung unter das Prinzip der Demokratie schweigen muss? Der Erfolg der von der kaufmännischen Jury prämierten Band ist ein wichtiger Indikator für das unbestimmte Lebensgefühl einer nicht kleinen Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft. Diese Tatsache zu verdrängen, wäre ausgesprochen gefährlich, ein Verschweigen des Ganzen oder Lamentieren darüber, lächerlich. Angesichts wachsender Akzeptanz radikaler Positionen ist es wichtig, auf breiter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Basis nachhaltige positive Konzepte zu erarbeiten, die eine attraktivere Alternative zum Phlegma des Verlierers anbieten und zum selbstbestimmten Handeln ermutigen.

Mittwoch, 6. April 2016

„Die einsamen Liebenden“ von Eshkol Nevo

Dass die Qualität erzählender Literatur nicht abhängig von ihrem Sujet ist, beweist der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo mit jedem seiner Romane einfallsreich aufs Neue. Man sollte sich deshalb nicht von einer scheinbar objektiven Inhaltsangabe seiner Werke davon abschrecken lassen, diesen großen empathischen Poeten unter den erfolgreichen israelischen Romanciers für sich zu entdecken. Sein hoch ambitioniertes, vielstimmiges Debüt „Vier Häuser und eine Sehnsucht“ steht heute als eines nur weniger Werke zeitgenössischer Autoren auf dem Lehrplan israelischer Schulen, das auch der vernachlässigten Sicht israelischer Palästinenser eine deutlich artikulierte Stimme verleiht. In seiner ernüchternden literarischen Recherche „Neuland“ hat er einen ebenso originellen wie kompetenten, möglicherweise definitiven Abgesang auf den schon zur Zeit seiner Entstehung anachronistischen politischen Zionismus geschaffen. Sein äußerlich unspektakulär scheinender Roman „Wir haben noch das ganze Leben“ erzählt die zwiespältige, konfliktreiche Freundschaft von vier Männern, die sich seit ihrer gemeinsam verbrachten Kindheit in vielfacher Hinsicht „aus den Augen verloren“ haben, sich aber immer noch alle vier Jahre vor dem Fernseher treffen, um gemeinsam das Finale der jeweiligen Fußball-WM anzuschauen.




Auch Eshkol Nevos erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienener neuer Roman „Die einsamen Liebenden“ schafft es wie alle seine bisherigen Bücher scheinbar ganz mühelos, gleichzeitig unterhaltsam und tiefgründig zu sein. Dabei beginnt das Buch wie eine gelungene Hommage an den israelischen Satiriker Ephraim Kishon: Anfang der 1990er Jahre bringt eine massive Einwanderungswelle aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion mehr als 600.000 Neueinwanderer nach Israel, die nicht nur zum überwiegenden Teil gar nicht jüdisch-religiös sozialisiert sind, sondern teilweise auch keinerlei nennenswertes Interesse an jüdischem Glauben oder zionistisch-israelischen Traditionen mitbringen. Der Bürgermeister der abgelegenen, überwiegend von religiösen Juden bewohnten Kleinstadt Zfat in den galiläischen Bergen, die vor allem von ihrer pittoresken 500jährigen Vergangenheit als religiöses und kabbalistisches Zentrum lebt, bemüht sich unermüdlich darum, dass der Staat auch seiner vernachlässigten Gemeinde eine gewisse Anzahl von Neueinwanderern zuteilt, damit diese in das neu geschaffene moderne Wohngebiet „Ehrenquell“ einziehen können, das von den Bürgern aufgrund einer obskuren Prophezeiung bisher konsequent gemieden wird.

Als Ältester einer Familie mit acht Kindern neigte Danino dazu, für alles die Verantwortung zu übernehmen – eine Neigung, die perfekt mit der Neigung seiner Frau harmonierte, ihm an allem die Schuld zu geben. Doch diesmal funktionierte es nicht. Diese Schuld nahm er nicht auf sich. […] Also hörte Danino auf, jeden Tag eine Seite Talmud zu studieren, er hörte auf zu beten und in die Synagoge zu gehen und stürzte sich stattdessen in weitverzweigte öffentliche Aktivitäten: Er gründete wohltätige Vereine, rief verschiedene Ausschüsse ins Leben und begann, Koalutionen zu bilden. Zwei Jahre später hatte er sich an der Spitze einer unabhängigen Liste zur Bürgermeisterwahl aufstellen lassen. Auf seinen Wahlplakaten stand über einer Nahaufnahme seiner traurigen Augen: „Avraham Danino, ein Politiker auf Augenhöhe.“ – Er erhielt die absolute Mehrheit und zog ins Rathaus ein, was ihm ermöglichte, immer länger von zu Hause fernzubleiben und die Distanz zu seiner Frau vollends festzuschreiben. Scheiden ließ er sich nicht, warum auch. Das wäre bei seinen Wählern nicht gut angekommen. Doch er vergaß nicht, was sie ihm vorgeworfen hatte und in welcher Situation.

Der Bürgermeister erhofft sich von einer offiziellen behördlichen Zuteilung von Neueinwanderern aber nicht nur großzügige staatliche Zuschüsse und dringend benötigtes politisches Ansehen sondern (ganz im Geheimen) auch eine knackige, ledige, vollbusige russische Blondine, die seiner wachsenden Einsamkeit in Zukunft entgegenwirken könnte. Als seine Bemühungen nach jahrelangen unermüdlichen Eingaben an das zuständige Ministerium endlich von Erfolg gekrönt sind, muss er jedoch eine bittere Enttäuschung hinnehmen: der lang erwartete Reisebus mit russischen Neueinwanderern, der „Ehrenquell“ schließlich erreicht, ist voller phlegmatischer Rentner, die kaum Hebräisch sprechen und wenig Interesse an anderen Themen als Schach zeigen. Da bietet sich für den ehrgeizigen Politiker ganz unverhofft eine neue Chance, als ein langatmiger Brief eines reichen amerikanischen Juden eintrifft, der an seinem Lebensabend ausgerechnet der „Stadt der Gerechten“ eine repräsentative Mikwe stiften möchte, ein rituelles jüdisches Badehaus, das der vorgeschriebenen sittlichen Reinigung dient. Da die Mikwendichte im religiös geprägten Zfat allerdings um einiges höher ist als erwartet, bleibt als einziger möglicher Standort nur noch das argwöhnisch betrachtete Viertel „Ehrenquell“, das im Volksmund mittlerweile „Sibirien“ genannt wird.

Zfat/Foto: Beny Shlevich

Dieser Standort erweist sich aber nicht nur aufgrund der vollkommen areligiösen Bevölkerung als problematisch. Die Arbeiten an dem kurzerhand bei dem versierten palästinensischen Spezialisten Naim in Auftrag gegebenen Rohbau, einem erklärten Pazifisten und passionierten Hobby-Ornithologen, müssen schon bald unversehens abgebrochen werden, weil die Baustelle in unmittelbarer Sichtweite eines geheimen Militärlagers liegt und der während seiner Pausen stets mit seinem Fernglas nach Vögeln Ausschau haltende Bauleiter vom Militärgeheimdienst unter Spionageverdacht verhaftet und interniert wird. Die Einstellung neuer Handwerker scheitert stets am Einspruch des Militärs, bis sich endlich notgedrungen der persönliche Referent des Bürgermeisters der Sache annimmt, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, der sich in seinem Leben als neu bekehrter streng Orthodoxer genauso fremd fühlt wie in seinem früheren Leben als Kibbuznik. Nun aber nicht genug damit, dass die russischen Einwanderer den sich der Fertigstellung zuneigenden Mikwebau für einen Schachclub halten und keine andere Verwendung des Gebäudes hinzunehmen bereit sind.

Wie kommen die denn plötzlich auf Schach? Danino dreht beide Daumen, die über seinen Hosengürtel hängen, schockiert zur Seite.
Ich weiß auch nicht, entschuldigt sich Ben Zuk. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind.
Aber das ist doch... das Gebäude eignet sich doch gar nicht dazu. Wo legen sie denn die Schachbretter hin? Wo sitzen sie? Im Mikwebecken?
Als ich das zweite Mal hinkam, hatten sie schon Holzbalken über das Tauchbecken gelegt und den Umkleideraum mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Und eine Tee-Ecke haben sie sich auch eingerichtet.
Was heißt das, „sie haben den Umkleideraum mit Tischen und Stühlen vollgestellt“? Es handelt sich hier immerhin um öffentliches Eigentum!
Da gibt es wohl jemanden mit geschickten Händen; ich muss sagen, dass sie sehr gut...
Das ist eine Katastrophe, Ben Zuk, eine Katastrophe! Weißt du, was passiert, wenn Mandelsturm kommt und sieht, dass da statt seiner Mikwe ein Schachclub steht?

Als Einlassfrau für die Mikwe wird nun ausgerechnet Moshes heimliche Jugendliebe aus dem Kibbuz verpflichtet: Ayelet, die ihn nach einer jahrelangen ebenso wahrhaftigen wie leidenschaftlichen Beziehung vor sieben Jahren nach einem traumatischen Schwangerschaftsabbruch verlassen hatte und seither ebenfalls eine neue Heimat im orthodoxen Judentum gefunden hat. Ihr gleichermaßen streng religiöser Mann ist nur deshalb vorübergehend mit ihr vom heimatlichen New York nach Zfat gezogen, weil das kinderlose Paar sich von der fruchtbaren spirituellen Atmosphäre der Stadt mit seinen zahlreichen Synagogen und Heiligengräbern eine sehr leibliche Empfängnis erhofft. Währenddessen kämpft das alternde russische Paar Katja und Anton mit dem ungewohnten Klima sowie seinen Depressionen und seiner Impotenz. Katjas zwölfjähriger Enkel hingegen fragt sich, wie er die Aufmerksamkeit und Liebe seiner Klassenkameradin gewinnen kann, und der unglückliche Naim sucht nach einem Weg, um seinen unerbittlichen Kerkermeister von seiner offensichtlichen Unschuld zu überzeugen. Glücklicherweise hat der Palästinenser kurz vor seiner Verhaftung unwillentlich etwas anderes beobachtet, das in gänzlich anderem Wortsinn etwas mit Vögeln zu tun hat. Was nun aber scheinen mag wie der komplette Handlungsabriss des Buches, ist allerdings nur die Vorbedingung für Eshkol Nevos Roman, die bereits auf den ersten fünfzig Seiten auserzählt ist.

Zfat, Tschernobyl-Synagoge/Foto: Emmanuel Dyan

Jetzt erst beginnt das eigentliche literarische Wunder: der Autor (und der Leser mit ihm) gewinnt im Erzählfluss so viel ehrliche Sympathie und Mitgefühl für seine Protagonisten, dass er scheinbar ungewollt und wie beiläufig das Genre der reinen Satire verlässt und uns einen tiefen, erkenntnisreichen Einblick in die unterschiedlichen Lebensentwürfe, Hoffnungen und Träume seiner handelnden Personen gewährt, der es uns auf sehr humorvolle und liebenswürdige Art und Weise erlaubt, Anteil zu nehmen, ohne zu werten und uns im scheinbar Fremden ebenso treffend widergespiegelt erkennen wie wir uns im scheinbar Alltäglichen oftmals fremd fühlen. Dies aber mit literarischen Mitteln sichtbar und auch gefühlsmäßig nachvollziehbar zu machen ist unverkennbar eines der Hauptanliegen des Autors, das wir schon aus seinen früheren Romanen kennen und schätzen gelernt haben. Wirkliche Empathie aber wäre allein mit satirischen Mitteln nicht zu erreichen, deshalb ist auch die Frage vollkommen obsolet, ob die schleichende Abkehr von diesem Genre gewollt oder ungewollt ist – sie entspricht im vollen Umfang der künstlerischen Intention Eshkol Nevos, was seine Literatur für den unvoreingenommenen Leser so wertvoll macht. Aus diesem Grund ist auch die hierzulande so gebräuchliche Trennung von E- und U-Literatur auf Eshkol Nevos Werke nicht anwendbar, denn er will vereinen, nicht trennen.

Der gewöhnliche Mönchfink kommt drei Wochen vor seiner Partnerin im Land an. Sie hält sich noch ein bisschen im Osten auf, bevor sie losfliegt, ihm nach. Der Mänchsfink ist sehr beschäftigt, er sammelt mit dem Schnabel Körner, ab und zu fliegt er auf, um zu weiteren Körnern zu gelangen. Der gewöhnliche Mönchsfink zählt nicht die Tage, bis seine Partnerin zu ihm zurückkehrt, er hebt auch nicht den Blick zum Himmel, um zu sehen, ob sie naht. Ganz anders dagegen der ungewöhnliche Mönchsfink... […]
Der ungewöhnliche Mönchsfink hebt nämlich den Blick durchaus zum Himmel. Etwa alle dreißig Sekunden. Dem ungewöhnlichen Mönchsfink schmecken die Samenkörner nicht ohne sie. Der ungewöhnliche Mönchsfink ist sogar in der Lage, seinen Schwarm zu verlassen und wieder zurückzufliegen, entgegen der Zugrichtung, gen Osten, in der Hoffnung sie unterwegs zu finden, auch wenn er dabei Gefahr läuft, sich zu verfliegen und irgendwann vor lauter Erschöpfung ins Wasser zu stürzen. Der ungewöhnliche Mönchsfink ist, noch während er untergeht, in der Lage zu denken: Dieser Versuch hat sich gelohnt.

Als Symbol für die Sehnsucht nach Zugehörigkeit im unbekannten, bisher unerprobten „individuell Richtigen“ hat Nevo für seinen neuen Roman das fiktive ornithologische Phänomen der „Lost Solos“ erfunden: einzelne Vertreter beliebiger Vogelgattungen, die sich als Einzelgänger aus eigenem Entschluss weit entfernt von ihrem üblichen Lebensraum und ihren Artgenossen aufhalten. So ergeht es auch den meisten seiner menschlichen Protagonisten in „Die einsamen Liebenden“. Die Auflösung ihrer Fremdheit gelingt den meisten von ihnen zwar nur vorübergehend. Doch die aus dieser positiv überwältigenden Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse verändern ihre Weltwahrnehmung tiefgreifend, sowohl gefühlsmäßig als auch auf ihre Ratio bezogen und lassen sie schließlich ruhiger, dankbarer und glücklicher (weiter)leben. In diesem unaufdringlichen, vom Autor behutsam angestoßenen Lernprozess vermag auch der mitfühlende Leser Hermann Hesses berühmtes Gedicht „Stufen“ spontan und eigenmächtig umzuformulieren, durchaus im Sinne des Dichters: „Und jedem Scheitern wohnt ein Zauber inne“ – es ist nur eine Frage der Perspektive.

Eshkol Nevo/Foto: Susanne Schleyer

Wenn man Nevos vielschichtig-unterhaltsamen Romane in eine chronologische Abfolge setzen wollte (was sich rückblickend als äußerst naheliegend herausstellt), müsste man „Die einsamen Liebenden“ an den Beginn stellen: es spielt vor der Ermordung Yitzhak Rabins durch einen jüdischen Nationalisten im Jahr 1995, die im Bewusstsein der meisten Israelis das traumatische Ende der Illusion eines greifbaren Friedens zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten sowie insbesondere mit den Palästinensern markierte, das voraussehbare Ende einer Optimismus-Epidemie. Insofern ist der satirische Grundton und die humorvolle Leichtigkeit des Buches vollkommen berechtigt. Am bisherigen Ende dieser Chronologie müsste allerdings der in der unmittelbaren Gegenwart spielende desillusionierende Roman „Neuland“ stehen, in dem in Südamerika ein jüdischer Neuanfang gewagt wird – mit den ursprünglichen Idealen der israelischen Staatsgründer, aber befreit von dem unlösbaren Konflikt gut gemeinter spät-imperialistischer Dominanz. Nicht nur hier erweist sich Eshkol Nevo als einer der visionärsten und menschlichsten unter den zeitgenössischen israelischen Schriftstellern, da er um keinen Preis bereit scheint, einem neuen Denken all jenes unterzuordnen, was er über die Unzulänglichkeit der menschlichen Seele weiß.

„Die einsamen Liebenden“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen bei dtv, 304 Seiten, € 16,90

PS: Es ist leicht, Eshkol Nevo zu unterschätzen. Aber noch leichter ist es, Amos Oz oder David Grossman zu überschätzen.