Jerusalem

Jerusalem

Freitag, 4. Dezember 2015

„Böse Absichten“ von Keigo Higashino

Es gibt derzeit international kaum einen originelleren Krimiautoren als den Japaner Keigo Higashino, dem es mit jedem einzelnen seiner Romane immer wieder aufs Neue gelingt, den eng gesetzten Grenzen des klassischen Kriminalromans scheinbar mühelos ganz neue Seiten und überraschende Perspektiven hinzuzufügen, weil er sich anders als viele seiner erfolgreichen Kollegen offensichtlich nicht damit zufrieden gibt, lediglich die immer wieder gleiche Geschichte unter leicht veränderten Vorzeichen, mit neuem Personal oder anderen Mitteln neu zu erzählen, sondern den bemerkenswerten Ehrgeiz besitzt, den Rahmen des erzählerisch Möglichen für sich ständig spielerisch zu erweitern. Zu Rühmen sind besonders sein beeindruckendes psychologisches Gespür für die „ganz normalen“ Abgründe der fragilen menschlichen Seele, die er in seinen außergewöhnlichen Plots stets mit außergewöhnlicher Empathie virtuos auslotet. Die beiden bisher erschienenen weithin gelobten Bände um den genialistischen Physik-Professor Yukawa, der mit seinem außergewöhnlichen Sinn für Logik im Auftrag seines ratlosen Freundes Kusanagi von der Tokioter Kriminalpolizei in Sherlock-Holmes-Manier die kompliziertesten Fälle löst, gehören zum absolut besten, was das Genre aktuell zu bieten hat. Besonders reizvoll dabei ist der ebenso kluge wie schöne Kunstgriff des Autors, den Leser dabei ganz gezielt auch emotional für den jeweiligen Mörder und seine im Grunde edlen Motive einzunehmen und ihn auf diese Weise bis zum überraschenden Schluss von ganzem Herzen mitleiden und hoffen zu lassen, dass der „unschuldig“ schuldig Gewordene vom sanften Geistesriesen Yukawa nicht enttarnt wird. Und letzterem geht es mitunter genau so.






Mit dem in etwas bescheidenerer Ausstattung lediglich als Softback erschienenen Band „Böse Absichten“ startet der Klett-Cotta-Verlag nun eine zweite auch international erfolgreiche Krimireihe des japanischen Bestsellerautors um den wortkargen Polizeikommissar und ehemaligen Gymnasiallehrer Kyochiro Kaga, die kaum weniger vielversprechend beginnt als die viel gelobten Yukawa-Bände, und die folgerichtig schon im nächsten Frühjahr mit dem bereits angekündigten Titel „Ich habe ihn getötet“ fortgesetzt werden soll. Dabei fällt es ausgesprochen schwer, viel schwerer als bei allen anderen bisher auf Deutsch erschienenen Romanen von Keiga Higashino, den Inhalt seines Buches einigermaßen vollständig zusammenzufassen, ohne dem Leser dabei schon vorab die Spannung an der geistreich-kurzweiligen Lektüre zu nehmen. Im Auftaktkapitel des Buches beschreibt der mäßig erfolgreiche Kinderbuchautor Osamu Nonoguchi im Stile einer persönlichen Chronik, wie er selbst gemeinsam mit der jungen Ehefrau seines ehemaligen Schulkameraden und langjährigen Freundes Kunihiko Nidaka am Vorabend des lange geplanten Aufbruchs des gefeierten Literaten und Bestsellerautors zu einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt nach Kanada dessen Leichnam in der bis auf das Arbeitszimmer bereits leergeräumten gemeinsamen Wohnung des Ehepaars aufgefunden hat. Der Erfolgsschriftsteller ist offensichtlich mit einem stumpfen Gegenstand von einem möglicherweise durch das offene Fenster eingedrungenen Unbekannten erschlagen worden.


Es geschah am 16. April, es war ein Dienstag.
Um halb vier Uhr nachmittags verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu Kunihiko Hidaka, der nur eine Haltestelle mit der Bahn entfernt wohnte. Von dort muss man zwar noch kurz mit dem Bus fahren, dennoch braucht man, wenn man den Fußweg hinzuzählt, alles in allem nur etwa zwanzig Minuten.
Für gewöhnlich besuchte ich Hidaka auch häufig ohne besonderen Grund, aber an diesem Tag hatte ich einen. Es war die letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, bevor dies für längere Zeit nicht mehr möglich sein würde.

Nonoguchis vollständige, überzeugend klingende Beschreibung der tragischen Ereignisse legt ganz nebenbei nahe, dass sein erfolgsverwöhnter Freund möglicherweise ein der Öffentlichkeit unbekanntes dunkles, gewalttätiges Geheimnis aus Schultagen besessen habe. Es habe seinerzeit nicht nur den beklagenswerten Fall eines gleichaltrigen Jungen in ihrer gemeinsamen Klasse gegeben, der von einer Schülerclique über Monate hinweg  aufs grausamste gequält und misshandelt wurde, sondern auch einen nie ganz aufgeklärten Vorfall von Beihilfe zur Vergewaltigung einer Mitschülerin. Von diesen beiden Ereignisse handele aus erstaunlich gut unterrichteter Perspektive auch einer von Nidakas frühen Bestsellern. Außerdem habe ihm der Schriftsteller zu seinem nicht geringen Erschrecken am Tag vor seinem Tode mit unverhohlenem Amüsement gestanden, den aufdringlichen kleinen Hund seiner resoluten Nachbarin vergiftet zu haben. Weitere charakterliche Mängel seines Freundes werden von Nonoguchi in durchaus augenfälliger Regelmäßigkeit immer wieder wie beiläufig erwähnt, so dass sich im Leser unwillkürlich ein Bild des Ermordeten als das eines skrupellosen erfolgssüchtigen Egomanen verfestigt, um den es möglicherweise – so der unausgesprochene Subtext – nicht weiter schade sei. Umso überraschter müssen wir am Ende des ersten Buchteils einen radikalen Bruch in der Erzählung des Kinderbuchautors hinnehmen, als dieser von seiner auch für ihn selbst überraschenden Verhaftung als Haupttatverdächtiger berichtet, womit seine Aufzeichnungen abbrechen.


Haus in Tokio/Foto: Japaga


Im zweiten Buchteil berichtet Kommissar Kaga persönlich vom aktuellen Stand seiner polizeilichen Ermittlungen, und nach Prüfung der von ihm ausführlich dargelegten objektiven Fakten müssen wir nun irritiert konstatieren, dass die Festnahme Nonoguchis absolut unvermeidlich war. In dem ein paar Jahre zurückliegenden, offensichtlich fingierten tödlichen Unfall von Nidakas Ex-Frau, die im Geheimen mit dem Verdächtigen liiert war, und einer möglicherweise mehr als zehn Jahre andauernden Ausnutzung von dessen schriftstellerischer Kreativität durch den Ermordeten (so existieren zahlreiche Originalmanuskripte von Nidakas Werken in Nonoguchis Handschrift) liegen gleich zwei überzeugende mögliche Tatmotive vor. Da Kommissar Kaga und Nonoguchi vor vielen Jahren für kurze Zeit an derselben Schule unterrichtet haben, bevor sie sich für andere Berufe entschieden, macht sich der akribische arbeitende Polizist die Ermittlungen jedoch alles andere als leicht, zumal er seinerzeit stets eine gewisse Sympathie für den zurückhaltenden und bescheidenen Kollegen empfunden hatte. Schon bald tauchen jedoch ohne großen Ermittlungsaufwand wie durch Zufall mehrere scheinbar unwiderlegbare Beweise auf, die Nonoguchis Schuld eindeutig zu manifestieren scheinen, zu eindeutig, wie Kommissar Kaga meint. Dass sein Ex-Kollege die Tat begangen hat, steht für ihn außer Frage, mit den von ihm angebotenen Motiven will er sich jedoch nicht zufrieden geben, denn alles, was vertrauenswürdige Zeugen über den ermordeten Kusanagi aussagen, dessen guter künstlerischer Ruf durch die von der Presse genüsslich verbreiteten Plagiatsvorwürfe inzwischen vollkommen zerstört ist, lässt viele der bisherigen Ermittlungsergebnisse zweifelhaft erscheinen.

Warten Sie einen Moment“, sagte ich. „Müssen wir das unbedingt in dieser Form machen?“
Wie meinen Sie das?“
Es wird eine längere Geschichte. Ich würde gern Einiges davon zuvor in meinem Kopf ordnen. Es wäre mir unangenehm, wenn ich beim Erzählen nicht den richtigen Ton treffe.“
Sie bekommen das Protokoll noch einmal zu lesen.“
Ich weiß, aber es liegt mir sehr viel daran. Wenn ich schon gestehe, dann möchte ich es mit meinen eigenen Worten tun.“
Kommissar Kaga schwieg einen Moment.
Das heißt, Sie wollen Ihr Geständnis selbst schreiben?“, fragte er dann.
Wenn Sie erlauben.“
Einverstanden. Wie lange werden Sie brauchen?“
Einen Tag, vermute ich.“
Kommissar Kaga war einen Blick auf seine Uhr. „Gut, dann komme ich morgen Abend wieder“, sagte er und stand auf.

Im weiteren Verlauf des Buches schickt uns der kluge Autor durch ein Wechselbad des Zweifels – auch an uns selbst und unsere Erwartungen an einen Kriminalroman, denn es gelingt Keigo Higashino scheinbar ganz mühelos, mit jedem neuen Kapitel eine weitere überraschende Wendung herbeizuführen und den Leser so ganz nebenbei zu einer umso aufmerksameren, hochkonzentrierten Lektüre zu erziehen, wie er sie lange nicht erlebt haben dürfte. Können wir unserer Wahrnehmung trauen? Wie leicht lassen wir uns nicht nur als Leser, sondern vielleicht auch in unserem privaten Alltag von so unterschiedlichen (und scheinbar gegensätzlichen Motiven) wie Empathie oder rationalen Argumenten täuschen? Durch ein weiteres schriftliches Geständnis über den angeblichen Tathergang wirft der unheilbar an Krebs erkrankte Nonoguchi aus der Untersuchungshaft heraus nur noch mehr Fragen auf, so dass sich der besonnene Kommissar gezwungen sieht, auch gegen den Willen seines Vorgesetzten noch tiefer in die Vergangenheit der beiden Schriftsteller einzudringen. Kann am Ende auch ein scheinbar belangloser, aus unbeteiligter Perspektive vollkommen irrational scheinender Grund das überzeugendste Tatmotiv sein? Keigo Higashino zeigt sich in seinem ersten Kommissar-Kaga-Roman auch formal noch experimentierfreudiger als wir es aus seinen bisher auf deutsch erschienenen Büchern gewohnt sind. Ganz nebenbei erfahren wir dadurch noch unmittelbarer, was polizeiliche Ermittlungsarbeit bedeutet, denn bevor uns der ermittelnde Kommissar am Ende seine überraschende Schlussfolgerung präsentiert, dürfen wir eine ganze Reihe wichtiger Zeugenaussagen ganz ungefiltert gleichsam wie aus der Ermittlungsakte heraus studieren.

Keigo Higashino

Anders als in den zu Recht gelobten und auch im deutschen Sprachraum kommerziell erfolgreichen Professor-Yukawa-Bänden, in denen unsere ganze Sympathie letztlich den „unschuldigen“ Mördern gehört (sowie den Personen, die sie durch ihre Tat schützen), dürfte in diesem ersten auf Deutsch erschienenen Kaga-Roman wohl niemand ernsthaft Mitleid mit dem kaltblütig und geradezu antisozial agierenden Täter empfinden. In einem formal bestechenden, unkonventionell erzählten und stets unterhaltsamen Psychokrimi um künstlerische Eitelkeit, unversöhnlichen Neid und blinde Zerstörungswut setzt Keigo Higashino seine sensibel-fundierte literarische Erkundungsreise in die Psychopathologie von Mördern auf bestechende Art und Weise fort. Die im Buch geschilderten Charaktere und sozialen Milieus sind vom Autor gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit mit bemerkenswertem psychologischen Einfühlungsvermögen und sicherem Blick für das individuelle Detail überzeugend ausgestaltet. Durch sein virtuoses literarisches Spiel mit unseren Vorurteilen, emotionalen Reflexen und Erwartungen an das Genre löst Higashino eine latente Verunsicherung im Leser aus, die weit über die Lektüre des Romans hinausreicht und insgesamt ein realistisches Bild unserer umfassenden Machtlosigkeit zeichnet, die wir angesichts von spontaner und systematischer Gewalt in unserem Alltag empfinden müssen. Auf den nächsten, für Ende April 2016 angekündigten Band der Reihe, in dem Kommissar Kaga mit nicht weniger als drei geständigen Tatverdächtigen konfrontiert wird, darf man sich jetzt schon freuen!

„Böse Absichten“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 255 Seiten, € 14,95

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.