Jerusalem

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Freitag, 27. November 2015

„Odins Söhne“ von Harald Gilbers

Für seinen packenden historischen Kriminalroman „Germania“ wurde der langjährige Fernsehredakteur und Theaterregisseur Harald Gilbers im Jahr 2014 zu Recht mit dem Friedrich-Glauser-Preis für das beste (und überraschendste) Krimi-Debüt des Jahres ausgezeichnet. In seinem überaus originellen, vielfach gebrochenen Protagonisten Richard Oppenheimer, einem von den Nazis verfolgten jüdischen Ex-Kriminalkommissar, der im vom intensiven alliierten Luftkrieg geprägten Berlin der letzten Kriegsjahre untergetaucht ist, hat der studierte Historiker gewissermaßen einen politisch korrekteren Gegenentwurf zu Philip Kerrs unverwüstlichem kriminalistischen Dauerbrenner an deutschen Kriegsschauplätzen, Bernie Gunther, geschaffen, der in seinen persönlichen Widersprüchen nicht nur sehr viel komplexer angelegt ist als sein nahezu gleichaltriger jüdischer Kollege, sondern sich auch gegen seinen Willen immer wieder in die politischen Intrigen und Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt, woraus die international vielfach prämierte Reihe ohne Zweifel einen großen Teil ihrer Spannung bezieht. 




Der amphetaminabhängige Oppenheimer hingegen lebt im nationalsozialistischen Berlin unter doppelter Lebensgefahr: als illegaler Jude kann er jederzeit entdeckt oder denunziert und nach Auschwitz deportiert werden, gleichzeitig schwebt über ihm aber auch das Damoklesschwert eines nicht weniger unpersönlichen Todes im nahezu allnächtlichen alliierten Bombenhagel, das er mit allen anderen Bewohnern Berlins teilt. Zwar scheint die Konstruktion der Figur eines verfolgten Juden im Jahr 1944/45, der Dank einer gefälschten Identität unbehelligt als Nachtwächter in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitet (und daher nicht zur Wehrmacht eingezogen werden kann) angesichts des unvorstellbaren, uns in seinen furchtbaren Details nur allzu bekannten kollektiven Leidens in den Konzentrationslagern besonders zu Beginn des nun vorliegenden zweiten Bandes der Reihe, „Odins Söhne“, durchaus gewagt und nicht wenig verharmlosend, möglicherweise unangemessen, doch gelingt es dem Autor erstaunlich schnell, uns mit einer ebenso spannenden wie gut recherchierten, an authentischen Fakten reichen Handlung von seiner durchdachten Konstruktion zu überzeugen.

Also abgesehen von der Thule-Gesellschaft – könnte man noch andere Sekten mit den Indizien in unserem Fall in Verbindung bringen?“
Larsen schmunzelte. „Diese Vorstellungen kursierten schon weit vor dem Aufkommen der Nationalsozialisten. In den letzten Jahrzehnten gab es so viele Logen und okkulte Verbindungen, dass es schwerfällt den Überblick zu behalten.“[...]
Oppenheimer blickte Larsen aufmerksam an.
Aber die Leute haben doch sicherlich bemerkt, dass das alles Unfug ist“, wandte er ein. „Nur eine Minderheit kann an so etwas geglaubt haben.“
Natürlich“, sagte Larsen. „Dieser Okkultismus wurde allgemein als Spinnerei abgetan, als skurrile Randnotiz. Doch die damit verbundenen Vorstellungen gärten im Untergrund weiter und verbreiteten sich schließlich im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Anhänger der sogenannten Ariosophie glauben, dass es in der Vergangenheit mal ein goldenes Zeitalter gab, in der die arische Rasse klar überlegen war. Die Ahnen werden als Gottmenschen mit ungeahnten Kräften verklärt. Und das Ziel ist nun, diesen ursprünglichen Zustand wieder herzustellen.“

Besonders lobenswert ist Harald Gilbers geglückter Versuch, dem interessierten Leser die auch heute noch vielen Menschen weitgehend unbekannten Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie sowie auch die direkte persönliche Verstrickung wesentlicher Protagonisten des Nationalsozialismus in pseudowissenschaftliche, esoterische und sektiererische Weltanschauungen vor Augen zu führen, die seit dem Übergang vom Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert für eine zunehmende Anzahl angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit verunsicherter Menschen mögliche Auswege aus der Unsicherheit ihrer Existenz anzubieten schienen. Die seinerzeit ausgesprochen populäre, insbesondere auch von den Nationalsozialisten geförderte, aus heutiger Sicht geradezu absurd wirkende sogenannte Hörbigersche Welteislehre als in sich geschlossenes alternatives kosmologisches System ist nur ein eher harmloses Beispiel seinerzeit weit verbreiteter Denkansätze, die unserem heutigen Verlangen nach esoterischer Lebenshilfe und Fantasy in Film und Literatur nicht unähnlich sind.

Zerstörtes Propagandaministerium, März 1945/Bundesarchiv, Bild 183-J313336



Richard Oppenheimer gerät gleich zu Beginn des Romans in eine heimtückische, selbst für den routinierten Kriminalisten schwer durchschaubare Falle, die im weiteren Verlauf der Handlung nicht nur ihn selbst in höchste Lebensgefahr bringt, sondern auch seine resolute Gönnerin, die in eigener Praxis niedergelassene Allgemeinmedizinerin Hildegard von Strachwitz, eine Schlüsselfigur des Widerstandes, die ihn schon im ersten Band der Reihe mehrfach vor der drohenden Verhaftung gerettet hatte, unter Mordanklage und dem nicht weniger gefährlichen Vorwurf der Wehrkraftzersetzung vor den berüchtigten Volksgerichtshof Johann Freislers. Hildes bereits seit Jahren getrennt von ihr lebender Ehemann hat als skrupelloser Lagerarzt von Auschwitz das Chaos während der Liquidierung des Lagers genutzt und sich mit einer Zugladung Morphium aus SS-Beständen nach Berlin abgesetzt. Mit Hilfe seiner Frau möchte er die heiße Ware möglichst unverzüglich gewinnbringend verkaufen, um sich mit dem zu erwartenden beträchtlichen Erlös nach Kriegsende im Ausland eine neue, unverfängliche Existenz aufzubauen.

Einsam und verlassen lag das Büro im Zwielicht, an der Zimmerdecke tanzten schwache Lichtreflexe. Auf dem Schreibtisch fand Oppenheimer zu Glück eine Petroleumlampe und zündete den Docht an, während Schmude die Vorhänge zuzog. Sie mussten vorsichtig sein. Obwohl es in der Umgebung lichterloh brannte, war es nicht ausgeschlossen, dass übereifrige Nachbarn die Polizei alarmierten, wenn jemand die Verdunklungsvorschriften missachtete.
Als die Lampe das Zimmer erhellte, mochte Oppenheimer seinen Augen nicht trauen.
Auf Peters' schäbigem Schreibtisch lag eine Schachtel voller Judensterne.
Was zum Teufel ist denn das?“, fragte Schmude.
Das siehst du ja“, murmelte Oppenheimer. „Und hier in der anderen Schachtel sind Entlassungsformulare. Alles blanko. Fürs Gefängnis, sogar fürs Konzentrationslager.“
Unterdessen hatte Schmude einen der Koffer geöffnet, die Peters in der Ecke übereinandergestapelt hatte.
Hier haben wir Gefängniskleidung.“ Er breitete eine gestreifte Hose aus. „Mit Gebrauchsspuren. Sieht ziemlich echt aus.“
Oppenheimer wurde zornig. „Dieses Schwein“, knurrte er. „Weißt du, was das ist? Das hier ist das perfekte Alibi.“

Die von Oppenheimer vermittelte Übergabe des Stoffs an die Berliner Unterwelt misslingt jedoch auf katastrophale Weise, und zwei Tage später wird von einer Polizeistreife die enthauptete Leiche des flüchtigen KZ-Arztes in dessen verwüsteter Wohnung aufgefunden. Erste und für die Behörden einzige Tatverdächtige ist seine Frau Hilde, die ihn zuverlässigen Zeugenaussagen zufolge noch wenige Stunden vor dem geschätzten Todeszeitpunkt aufgesucht und laut mit ihm gestritten hatte. Die offizielle Anklage vor dem bekanntermaßen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie voreingenommenen Volksgerichtshof lautet nicht nur auf Mord, sondern auch auf Wehrkraftzersetzung, beide Vorwürfe für sich allein sichere Todesurteile.

Nazis unter sich/ Bundesarchiv, Bild 151-10-11

Natürlich nimmt Oppermann unverzüglich private Ermittlungen auf, wohl wissend, dass ihn dies in unmittelbare Gefahr bringt, weil auch er selbst zum fraglichen Zeitpunkt am Tatort war. Doch der verzweifelte Versuch, seine Wohltäterin rechtzeitig vor dem kurzfristig anberaumten Prozessbeginn zu entlasten, ist bei weitem nicht seine einzige Sorge: er erhält auch eine Einberufung zum „letzten Aufgebot“ des sogenannten Volkssturms, was ihn erneut in erhebliche persönliche Gefahr bringt, als Jude enttarnt und in den Tod geschickt zu werden.

Um es klarzumachen: Wenn ich den Schießbefehl gebe, dann tut ihr nur so und sagt 'Peng!'. Das reicht. Wir sind nicht hier, um Patronen zu verplempern. Später wird jeder von euch fünf Kugeln bekommen, um das Vaterland zu verteidigen. Es ist eure Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder abgegebene Schuss ein Treffer ist. Jede einzelne Patrone zählt! Und Sie...“ Niklisch zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Oppenheimer und starrte ihn hasserfüllt an. „Ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie nur vier Patronen bekommen! Das haben Sie dann davon. Und kommen Sie ja nicht heulend angerannt, wenn Sie einer Horde Russen gegenüberstehen! Ab in die Reihe!“ Zerknirscht trat Oppenheimer in die Reihe zurück. Diese Veranstaltung war noch absurder, als er es ohnehin erwartet hatte. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Auch in seinem zweiten Oppenheimer-Roman gelingt dem Autor eine erschreckend unmittelbare literarische Vergegenwärtigung der bedrückenden Atmosphäre eines Lebens im kontinuierlichen Ausnahmezustand. Im nationalsozialistischen Berlin des Winters 1945 kann nicht nur jeder falsche Schritt und jeder unbedachte Aufenthalt am falschen Ort, sondern sogar jedes unüberlegte Wort das sichere Todesurteil bedeuten. Noch häufiger als im ersten Band wird Oppenheimer dabei im Lauf seiner verzweifelten Ermittlungsbemühungen von den aufs Äußerste intensivierten, schon längst nicht mehr nur auf nachts beschränkten Bombenangriffen der Alliierten behindert. Es ist ein großartiger, metaphorisch kaum zu übertreffender Einfall, wie sich der Protagonist ebenso wie die von ihm beschatteten Verdächtigen immer wieder unvermittelt einen sicheren Unterschlupf in einem Kellerraum oder einem öffentlichen Gemeinschaftsbunker suchen müssen, um das Bombeninferno wohlbehalten zu überstehen. Die Spannung des Romans wird dadurch noch deutlich gesteigert – von genialer Absurdität ist die finale Verfolgungsszene, in der Ermittler und Zielperson einträchtig im Bunker sitzen und auf das Entwarnungssignal warten.

Harald Gilbers/Foto: Ronald Hansch

Als schwer greifbarer Strippenzieher im Hintergrund erweist sich schließlich der skrupellos-verblendete Guru einer durch und durch von rassistischen Überlegenheits- und mystizistischen Erlösungsgedanken durchdrungenen völkischen Sekte, deren ebenso weltfremde wie lebensfeindliche Ideologie sich der Autor gar nicht erst ausdenken musste, sondern sich aus authentischen Vorbildern, wie sie auch Elisabeth Hamann in ihrem Buch „Hitlers Wien“ ausführlich beschreibt, frei zusammenstellen konnte, ohne sie im Sinne einer stärkeren Wirkung noch weiter ausschmücken zu müssen. Den unvoreingenommenen Blick des nachhaltig irritierten Lesers gezielt auf den inneren Zusammenhang zwischen sektiererischen Erlösungsgedanken und dem verhängnisvollen Weg in einen totalitaristischen Staat zu richten, ist gerade auch angesichts der Herausforderungen unserer Zeit vielleicht der größte Verdienst des spannenden Kriminalromans. Denn im Gegensatz zu den unmittelbar betroffenen Protagonisten des Buches befinden wir uns als „unbeteiligte“ Leser in der bequemen Lage, die beschriebenen Ereignisse aus einer Perspektive zu betrachten, die wir uns vielleicht generell zu eigen machen sollten, da sie allein uns wirksam befähigt, Erlebtes und Beobachtetes rational und unvoreingenommen, gleichsam „neutral“ zu beurteilen. In diesem Fall werden unser Schrecken und unsere Erschütterung dadurch letztlich nur noch gesteigert. Einen derart nützlichen inneren Prozess umfassenden Begreifens im Leser auszulösen, ist ohne Zweifel eine große schriftstellerische Leistung. Das mit seinem literarischen Debüt gegebene Versprechen vermag Harald Gilbers auf diese Weise ohne Abstriche einzulösen.

„Odins Söhne“, erschienen bei Knaur, 528 Seiten, € 9,99

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