Jerusalem

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Donnerstag, 19. November 2015

„Der Dieb“ von Fuminori Nakamura

In einem von Stephan Krawczyk eindringlich vertonten, anonymen Text aus der Romalyrik („Zigeunerlied“) vernehmen wir die unerbittliche Antwort Gottes auf die ohnmächtige Anklage eines bitterarmen Mannes, der in seinem harten, freudlosen Leben Tag und Nacht vergeblich schuftet, um seine kleine Familie durchzubringen. Trotz größter, unermüdlicher Anstrengungen tritt er buchstäblich auf der Stelle: „Oj Gott, großer Herr, nimm mich oder lass mich leben, siehst du nicht, was du aus uns gemacht? [...] Du bist der große Herr, wie kann ich dir im Wege sein, was stör'n dich meine Kinder?“ – Doch der seltsam unnahbare, ebenso allmächtige wie mitleidlose Gott antwortet mit größter, unbegreiflicher Herzenskälte: „Ich nehm dich nicht, ich lass dich auch nicht leben. Ich möchte nur allmählich dich zu Tode quälen.“


Ein ähnlich freudloses, auf den Leser wie ferngesteuert wirkendes, unerfülltes Leben führt auch der namenlose Protagonist in Fuminori Nakamuras faszinierender Erzählung über einen kleinen Taschendieb in Tokio. Aufgrund seiner über einen Zeitraum von nahezu zwanzig Jahren perfekt austrainierter Fingerfertigkeit und routinierter Menschenkenntnis muss sich dieser zwar keinerlei Sorgen um sein wirtschaftliches Überleben machen. In seinem Selbstverständnis als Diebeskünstler mit festen moralischen Prinzipien, der wie selbstverständlich von anderen nimmt – allerdings ausschließlich von Reichen –, hat er sich sogar stets die naive Fähigkeit bewahrt, noch das wohlig-aufregende Kribbeln während der Tat zu verspüren, das er schon als kleiner Junge empfunden hat, als es ihn – einem unbewussten Impuls folgend – das erste Mal zum Stehlen trieb.

Du kannst ein neues Leben anfangen. Es ist möglich. Vergiss das Klauen, egal ob Essen oder Geld oder sonst was.“
Warum denn?“
Er schaute zu mir hoch.
Weil du sonst nie deinen Platz in der Welt finden wirst.“
Aber...“
Hör auf. Vergiss es einfach.“
Bei dem Leben, das ich führte, war ich zweifellos nicht befugt, einem Kind Ratschläge zu geben.
Hier, das ist für dich.“
Ich hielt ihm eine kleine Schatulle hin.
Was ist das?“
Etwas, was ich nicht brauche. Öffne die Schatulle erst, wenn es dir richtig schlechtgeht, wenn du Kraft brauchst, wenn du denkst, du kannst nicht mehr, und nur noch sterben willst. Ist es nicht toll, so was zu haben?“
Und wenn die mir jemand klaut?“

Eines Abends beobachtet er zufällig in einem Vorstadt-Supermarkt, wie eine Frau, eine Prostituierte augenscheinlich, ihren kaum achtjährigen Sohn auf vollkommen unzulängliche Art und Weise die Zutaten fürs Abendessen zusammenstehlen lässt. Der Protagonist bemerkt, dass der Junge bereits von der Ladendetektivin beobachtet wird und interveniert sogleich uneigennützig und spontan, indem er die von dem kleinen Jungen zusammengetragene Ware an sich nimmt und ganz regulär an der Kasse für ihn bezahlt. Zunächst gegen seinen Willen entwickelt sich in den nächsten Wochen nicht nur eine rührende Freundschaft, in deren Rahmen der erfahrene Dieb den kleinen Jungen unter seine Fittiche nimmt, um ihm seine besten und bewährtesten Tricks beizubringen. Der Protagonist beginnt auch eine sexuelle Beziehung mit dessen Mutter und steckt den beiden immer wieder erhebliche Geldbeträge zu.

Shibuya-Bahnhof, Tokio/Foto: Stéfan Le Du

Doch gerade als er nun fast gegen seinen Willen zum ersten Mal seit vielen Jahren eine Art von Gefühl von Bestimmung und mitmenschlicher Zugehörigkeit spürt, tritt vollkommen unvermittelt die japanische Mafia in sein Leben. Vor vielen Jahren hatte er einmal gemeinsam mit seinem seither spurlos verschwunden Lehrmeister einen dreckigen Handlangerauftrag erledigt, in dessen für die beiden Kleinganoven undurchschaubarem Verlauf ohne ihr eigenes Zutun ein hochrangiges Regierungsmitglied brutal ermordet worden war. Zu seiner eigenen Überraschung hatte der allmächtige Yakuza-Pate ihn damals entkommen und unbehelligt weiterleben lassen. Jetzt allerdings fordert er eine realistischerweise kaum umsetzbare Gegenleistung dafür. Innerhalb einer Woche soll der Protagonist drei überaus komplizierte Taschendiebstähle ausführen. Wenn er nur einen einzigen davon nicht schafft, soll er unverzüglich sterben.

Hast du vergessen? Dass dein Schicksal in meinem Kopf drin ist. Geiles Gefühl! Jedenfalls bleiben dir noch vier Tage. Daran wird sich leider nichts ändern. Menschen wie du enden meistens so. Jetzt pass auf, was ich dir sage: Ob du es schaffst oder nicht, macht für mich kaum einen Unterschied. Ich ändere meine Entscheidungen nie. Wenn du es nicht schaffst, stirbst du. Es gibt noch andere Leute, die zu den gleichen Bedingungen für mich arbeiten. Du bist nur einer von vielen. Nur ein winziger Teil von mir. Was die oben an der Spitze kaum kümmert, ist für die unten eine Sache von Leben oder Tod. So funktioniert die Welt. Und das Allerwichtigste dabei...“

Im Stil einer klassischen Novelle berichtet der Pate dem Protagonisten in einem langen pseudo-philosophischen Monolog ausführlich von einem grausamen Experiment, das ein französischer Adeliger während des Zeitalters des Absolutismus an seinem eigenen Adoptivsohn vollführt habe. Im Verlauf von dessen kaum dreißigjährigem armseligen Leben habe er im unmoralischen Bemühen, sich eine Ahnung göttlicher Allmacht anzueignen, jedes Detail in dessen tragisch verlaufendem Leben von der Adoption im Säuglingsalter bis zu seinem frühen, gewaltsamen und von ihm selbst vollstreckten Tod bis ins kleinste Detail vorausgeplant. Angesichts dieser schrecklichen, nachhaltig deprimierenden Binnenerzählung ahnt der Leser schon früh, dass die Chance für den Protagonisten auf eine erfolgreiche Ausführung seines undurchführbar scheinenden Auftrags sowie auf ein glückliches Ende sehr gering ist.


Fuminori Nakamura/Foto: CurryTime7-24

In der eindringlichen literarischen Thematisierung unseres schicksalhaften Ausgeliefertseins unter die unentrinnbare Allmacht eines unergründlichen monotheistischen Gottesbildes oder dem totalitärem menschlichen Streben, dieses abstrakte theologische Prinzip auf die Gesellschaft oder auf einzelne Individuen innerhalb der Gesellschaft zu übertragen, ist Fuminori Nakamura ein wirklich außergewöhnlicher, ebenso scharfsinniger wie unterhaltsamer philosophischer Noir-Krimi gelungen, über den der Leser noch lange nachgrübeln muss und der den produktiven japanischen Autor (geboren 1977) zu einer der aufregendsten Neuentdeckungen dieses Bücherherbstes macht. Was, wenn wirklich ein großer Unbekannter die Fäden zöge in all unserem irdischen Glück und Unglück? Was, wenn wir wirklich nur Marionetten wären in einem Spiel, das wir von unserem Standpunkt nicht zu durchschauen vermögen? Das lyrische Ich des armen Rom in Stephan Krawczyks Song hat eine bescheidene, menschliche Entgegnung auf diese großen Fragen: „Ich habe eine schöne Frau und vier Kinder. […] Und mehr brauch ich nicht.“ - Es ist vielleicht die einzige mögliche Antwort, zu der wir in unserer menschlichen Unzulänglichkeit fähig sind.

„Der Dieb“, aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg, erschienen bei Diogenes, 211 Seiten, € 22,-

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