Jerusalem

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Dienstag, 14. Juli 2015

„Auf einem Teppich aus Luft“ von Hans Raimund


Es gibt nicht nur in literarischer Hinsicht kaum eine lohnendere Perspektive auf das scheinbar gewöhnliche Alltägliche als die des zu ehrlichem menschlichen Mitgefühl fähigen, kritischen Randständigen oder vorurteilsfreien Außenstehenden. In einer hochgradig unbewussten, affektgesteuerten Gesellschaft, die dem Einzelnen fast täglich auf geradezu zwanghafte Art und Weise die ohnmächtige Unterwerfung unter einen abstrakten, unausgesprochenen staatsbürgerlichen Konsens abverlangt und ihn so zunehmend in eine ebenso unbewusste, ganz und gar unversöhnliche negative Abgrenzung treibt, droht die heilsam-bereichernde Position des unabhängigen Beobachters, der die zahlreichen wohlfeilen und nützlichen Konventionen des unnötigen und falschen Konsens zu ignorieren wagt, gänzlich erdrückt und er selbst zum Außenseiter abgestempelt zu werden, obwohl wir seiner Sichtweise am dringendsten bedürfen.



Der hochentwickelte Buchmarkt in Deutschland hat zwei segensreiche Werkzeuge hervorgebracht, um die im Handel schwer verkäufliche, aber umso wesentlichere Position des randständigen, unabhängigen Künstlers wirksam zu fördern und zu stützen: erstens, die vom Gesetzgeber offiziell sanktionierte Buchpreisbindung, die den Buchverlagen feste Preise für ihre hart kalkulierten, ästhetisch schönen Produkte garantiert und den in der freien Wirtschaft möglichen und üblichen Preisverfall des „Kulturguts Buch“ nachhaltig unterbindet sowie, zweitens, die sogenannte Mischkalkulation der ambitionierteren Verlagshäuser, mit deren Hilfe Bestsellererlöse die Pflege der schöngeistigen Literatur, insbesondere der schwer verkäuflichen Lyrik, des Essays oder der experimentellen Literatur effektiv mitfinanzieren. Trotzdem ist es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, unabhängige literarische Stimmen zu vernehmen, denn auch die renommiertesten Literaturverlage sind angesichts kontinuierlich rückläufiger Buchabsätze auf ihr ungeliebtes Dasein als Wirtschaftsunternehmen zurückgeworfen worden.


89 WAR ER
Hatte Diabetes
Und ein ProstataGe
Schwür (inoperabel)

Sagt er noch   vor allen
Im Café   zu einer
Langjährigen Freundin:
Nie im Leben werde

Er mit ihrem Freund   dem
Juden da   an einen
Tisch sich setzen … hoffe

Auch   dann nach dem Tode
Möglichst weit entfernt von
Ihm   im Grab zu liegen


Da ein Paradigmenwechsel zugunsten eines neuen privaten und/oder Wirtschaftsmäzenatentums nach amerikanischem Vorbild hierzulande noch nicht stattgefunden hat, es auch vor allem aufgrund der in Deutschland weit verbreiteten Auffassung mittelfristig schwer haben wird sich durchzusetzen: nämlich dass für so etwas der angeblich „unabhängige“ Staat zuständig sei (wieso eigentlich ausgerechnet der?), darf es nicht nur für die österreichische, sondern auch für die deutschsprachige Literatur insgesamt als echter Glücksfall betrachtet werden, dass sowohl die Bundesregierung Österreichs als auch die einzelnen Bundesländer seit vielen Jahren ein wirkungsvolles Fördersystem für unabhängige Verlage etabliert haben, das mit Hilfe von objektiv einsehbaren, fest gestaffelten Subventionen einen erheblichen Kostendruck von den Verlagen nimmt und sie in die begrüßenswerte, komfortable Lage versetzt, auch solche Literatur ohne unwägbares wirtschaftliches Risiko zu veröffentlichen, deren kommerzielle Erfolgsaussichten auf den ersten Blick eher bescheiden scheinen.

Wir wünschen    was wir nicht haben
Was wir haben   wünschen wir nicht
Sobald wir haben   was wir wünschen   erlischt der Wunsch
Jede Erfüllung eines Wunsches ist ein Erkalten
Jede Erfüllung eines Wunsches ist ein Entleeren
Nur unerfüllbare Wünsche erfüllen uns
Nur unerfüllbare Wünsche wärmen uns

Zum Glück jedoch täuscht der kleinliche und beschränkte Blick des Kommerzbuchhalters mit seinen zahlreichen grüblerischen Bedenken oft genug: das wunderbare, vor nicht allzu langer Zeit mit Hilfe von Subventionen des Kanzleramts und weiteren Mitteln der Kunstförderung des Burgenlandes unter dem Titel „Auf einem Teppich aus Luft/On a carpet made of air“ zweisprachig in der edition lex liszt 12 in Oberwart erschienene bisherige poetische Lebenswerk des vielfach ausgezeichneten Wiener Schriftstellers, Dichters und Übersetzers Hans Raimund (geboren 1945) liegt mittlerweile bereits in einer zweiten Auflage vor und darf somit als besonders schönes und geglücktes Beispiel dafür gelten, wie gute, wesentliche Literatur schwerelos-zielsicher dennoch zu seinem verdienten Publikum findet, wenn man es wagt, sich aktiv dafür einzusetzen.

Am Rand der Welt: Wegweiser in Duino

Hans Raimund, geboren in Petzelsdorf in Niederösterreich, aufgewachsen in Wien und nach einem langjährigen Intermezzo im norditalienischen Duino heute mit Zweitwohnsitz in Hochstraß im Burgenland ist nicht nur ein genuiner und hoch origineller Schriftsteller und Lyriker, dessen persönliche literarische (und biografische) Position der Essayist Karl-Markus Gauß in seinem lesenswerten Vorwort zutreffend als grundsätzlich randständig beschreibt, sondern als respektables Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste auch ein wunderbarer, engagierter und kommunikativer Mensch, der sich nicht nur mit seiner ganzen persönlichen Integrität, sondern mitunter sogar mit seinen privaten Mitteln für die Werke anderer Schriftsteller einsetzt: so finanzierte er zuletzt die spektakuläre Erstveröffentlichung der im Triester Dialekt verfassten und von ihm selbst kongenial ins Deutsche übersetzten Gedichte des in Italien bis heute zu Recht verehrten Dichters Virgilio Giotti wesentlich mit.



DU BIST WIE EINE ROSE...“
Hab einmal mich gemüht   dich samt
Den Wurzeln aus dem Boden auszureißen
Doch drinnen tief   warst du ein umgekehrter Baum


Hans Raimunds langjähriges unermüdliches Engagement als aktiver Teilnehmer an internationalen Literaturübersetzerworkshops ermöglichte es ihm auch, seine gesammelte Lyrik von renommierten befreundeten Übersetzern ins Englische übersetzen zu lassen – zweifellos ein ausgesprochen glücklicher Nebeneffekt seines menschlichen und künstlerischen Schaffens, der nicht nur die vorliegende Ausgabe ungemein bereichert, sondern auch der allgemeinen Verbreitung seines Werks ohne Zweifel ausgesprochen förderlich sein wird. Besonders charakteristisch für Raimunds literarischen Standpunkt, ist sein persönlicher Aufbruch in die Provinz. In der Metropole Wien als Sohn eines bis an sein Lebensende überzeugten Nazis aufgewachsen und bis Ende Dreißig fast ausschließlich dort lebend, übersiedelte er im Jahr 1984 für zwölf Jahre in die kleine Stadt Duino nahe Triest an der italienischen Adriaküste. Heute lebt er, trotz eines weiteren Wohnsitzes in Wien, fast ausschließlich im kleinen Dorf Hochstraß im Burgenland, nahe der ungarischen Grenze.


Riserva naturale delle Falesie di Duino

Hans Raimund ist einer, der das Metropolitane wie selbstverständlich kennt, sich während seiner ersten Lebenshälfte widerwillig darin bewegt hat, und es in dieser Zeit ebenso ausgiebig wie misstrauisch beobachtet, politisch ausgelotet und poetisch analysiert hat, um dann bewusst den Schritt in die Provinz zu wagen. Schon als Heranwachsender hatte er sich angesichts der unverbesserlichen politischen Haltung seines Vaters insgeheim gewünscht, dass die deutlichen orientalischen Gesichtszüge seiner Mutter heimlicher Ausdruck einer nur ihnen beiden gemeinsamen zigeunerischer Abstammung sein mögen: ein möglicher magischer Ausweg aus der eigenen Scham, zu der sein uneinsichtiger Vater lebenslang niemals fähig war. Abseits des „Bedeutenden“ und „Prächtigen“ und fern der abgeschmackten künstlichen Geschäftigkeit alles Etablierten wurde Raimund aber nicht zum unsteten Reisenden, wohl aber – am liebsten mit seinem jeweiligen Hund – zum ausdauernden Spaziergänger an seinen langfristigen Wohnorten.

FÜSSE GLEITEN   SCHLEIFEN
Tragen Leiber weg   von hier nach dort
Halten ein
                   Schreiten weiter
Durch die Räume
                                So behend
Der Pflanze Starre übersteigend

Bewegung ist zu spüren noch im Innehalten
Tief   bis in die Spitzen
                                          in des Lichtes Schraffen

Stet der Drang
Nie erlernte   seit jeher gekonnte Schritte
Zu gehen   von hier nach dort

[…]
Eins sind Tier und Pflanze

Nicht nur als kontemplativer Fußgänger, sondern ganz besonders auch in seiner Poesie hat Hans Raimund die wunderbare und nützliche Fähigkeit zu einer erstrebenswerten Kunstform vervollkommnet, an einmal besuchte Orte immer wieder zurückzukehren, mit diesen in einem lebendigen inneren und – wenn möglich – äußeren Dialog zu bleiben und auf diese Weise bis zum eigentlichen Kern ihres jeweiligen Wesens vorzustoßen: durch den so bewusst hervorgerufenen, ebenso andächtigen und genau beobachteten wie reflexiven Kreislauf des sich Näherns, Zurücktretens und Wiederherantretens entsteht eine ausgesprochen reizvolle, mehrdimensionale Perspektive, die durch die warmherzige, empathische und stets zur Versöhnung bereite Grundhaltung des Autors noch intensiviert wird. Raimunds Lyrik vermisst das Leben somit nicht nur mit den Mitteln des logischen Verstandes, sondern auch mit denen des (Mit-)Gefühls. In dieser Hinsicht ist Raimunds unverwechselbares Werk selbst noch im scheinbar Privaten immer auch politisch, indem es sich (aus verfeinerter menschlicher Einsicht) der herrschenden Auffassung verweigert, die Erscheinungsformen des inneren und äußeren Lebens isoliert und unverbunden zu betrachten.

Hans Raimund/Foto: Übersetzerwerkstatt Erlangen


In seinem aufschlussreichen Nachwort offenbart sich der Autor sogar in noch stärkerem Maße als in seiner Lyrik als politisch denkender Mensch, etwa wenn er über sein Scheitern schreibt, sich mit Hilfe der von ihm im Laufe der prägenden Wiener Jahre fest verinnerlichten Verweigerungshaltung vor den rigiden Anforderungen des System zu bewahren. Oder wenn er bekennt, dass er stets davor zurückgeschreckt sei „Erfahrungen, Erlebnisse, Ereignisse, Begegnungen, die wichtig für mich waren, bedenkenlos zu Literatur zu machen“. So müssen uns leider die lebendigen Schilderungen seiner intensiven „auf seltsame Weise symbiotischen Beziehung von mir und der Landschaft um Duino“ endgültig vorenthalten bleiben – eine unerhörte Poesie tatsächlich gelebter individueller Erfahrung, die allein dem Menschen Hans Raimund vorbehalten bleibt. „Ein Teppich aus Luft“ ist nicht nur eine wunderbare, verdiente Würdigung eines intensiven, bewusst gelebten Dichterlebens, das uns mit zahlreichen wertvollen Perspektiven beschenkt, sondern auch ein beherztes, aussagekräftiges Plädoyer für die unbedingte, vorbehaltlose Kunst- und Literaturförderung – von welcher Seite auch immer.

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