Jerusalem

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Freitag, 26. Juni 2015

„Zurück auf Start“ von Petros Markaris

Jeder, der die letzten drei Krimis um den desillusionierten Athener Polizeikommissar Kostas Charitos aufmerksam gelesen und somit auf dankbar-erhellende und gleichzeitig höchst unterhaltsame Art und Weise die ebenso schmerzhafte wie schonungslose literarische Chronik der fortschreitenden katastrophalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise sowie der von der Europäischen Gemeinschaft verordneten schmerzhaften Sparauflagen auf die griechische Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus der pointiert-realistischen Perspektive des Schriftstellers Petros Markaris mitverfolgt hat, kann sich nur umso mehr wundern, mit welch arrogant-chauvinistischer Selbstverständlichkeit und unreflektierter Dickfelligkeit gerade deutsche Politiker heute mit rationalistisch verschleierten Argumenten die Etablierung eines lange Zeit gern gesehenen Familienmitgliedes als ganz allgemeinen, öffentlichen Sündenbock zu zementieren versuchen.
Das sich hierin äußernde Maß der psychologischen Übertragung wird besonders deutlich, wenn man sich angesichts der häufigsten erhobenen Vorwürfe von Vetternwirtschaft, Begünstigung und Misswirtschaft einmal selbstkritisch vor Augen führt, dass die wesentlichen Triebfedern auch deutscher Politik und Wirtschaft, wie sie nicht nur in den von staatlichen Institutionen, Unternehmen und Gewerkschaften sowie auch im ganz persönlichen Berufs- und Privatleben der meisten Bundesbürger deutlich werden, ebenfalls darauf ausgerichtet sind, bei möglichst geringem Arbeitsaufwand mittels geschickter Vernetzung den höchstmöglichen Nutzen für sich selbst oder seinen jeweiligen Interessenverband zu erzielen. Man muss gar nicht so weit gehen, die schlimmsten Auswüchse der daraus erwachsenden Korruption zu brandmarken: in jeder lebendigen menschlichen Solidaritätsgemeinschaft hilft und unterstützt man sich gegenseitig, was zunächst einmal ein ganz natürlicher, vollkommen legitimer Vorgang ist.

Du fragst Dich vielleicht, warum ich Griechenland nicht verlassen habe. Ich will versuchen, es Dir zu erklären, obwohl ich nicht sicher bin, ob Du mich verstehst. Mein Problem ist, dass ich nicht griechisch genug denke, um meine Landsleute mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Ich gehe in einem Land frontal zum Angriff über, das von Parteisöldnern beherrscht wird. Als Grieche hätte ich Vranas, den Dreckskerl angeheuert, und alles wäre gut gewesen. Es hätte mich zwar etwas mehr gekostet, aber ich wäre meine Sorgen losgewesen. Gleichzeitig denke ich aber auch zu wenig deutsch. Als Deutscher hätte ich alles hingeschmissen und wäre aus dem Schneider gewesen. Ich hätte Griechenland zwar endgültig den Rücken gekehrt, hätte dafür aber meinen Seelenfrieden gefunden.

Die pseudo-rationalistische öffentliche Brandmarkung eines in massive wirtschaftliche Not geratenen befreundeten Gemeinwesens jedoch ist nicht nur ein allzu leicht durchschaubarer, geradezu schändlicher Versuch, von unbestreitbaren eigenen Defiziten abzulenken und damit eine identifikationsstiftende „positive“ Abgrenzung herbeizuführen, sondern birgt dazu die massive Gefahr einer schleichenden Legitimierung von Ausländerhass aus scheinbar rationalen Gründen in sich, so als müsste man schon allein aus vollkommen objektiven moralischen Gründen jeden Menschen ablehnen, der mit seinen Ressourcen schlecht zu wirtschaften weiß.


Athen, Straßenszene/Foto: Mstyslav Chernov


In Petros Markaris' mittlerweile vierten Krisenroman, dem insgesamt neunten Band der gesamten Buchreihe, steht erneut der zerbrechliche Ist-Zustand der griechischen Gesellschaft im Mittelpunkt. Allerdings nimmt der scharfsinnig gewitzte Autor nun den verzweifelten Selbstmord eines Deutsch-Griechen zum willkommenen Anlass, um auf überaus pointierte und durchweg sehr erhellende Art und Weise kaum bekannte Unterschiede und unvermutete Gemeinsamkeiten im jeweiligen Nationalcharakter der beiden Länder herauszuarbeiten. Der in Deutschland aufgewachsene und hoch ausgebildete Jungunternehmer Andreas Makridis wird erhängt in seiner Athener Wohnung aufgefunden. Obwohl die polizeilich angeordnete Obduktion den naheliegenden Befund „Suizid“ eindeutig bestätigen kann, beginnt nur wenige Tage darauf eine spektakuläre Mordserie an höchst unterschiedlichen Privatpersonen, die sich in von einer bislang unbekannten Organisation der „Griechen der fünfziger Jahre“ verfassten, im Internet veröffentlichten elektronischen Bekennerschreiben als Vergeltung für den „Mord“ an Makridis verstanden wissen möchte.

Was, du bist schon da?“, meint sie. „Wir haben doch eben erst telefoniert.“
Ich habe den Seat genommen.“
Und ich erkläre ihr, dass ich unseren Wagen nach dem Überfall […] reaktiviert habe, um durch Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht unnötig Zeit zu verlieren.
Ich spüre, dass ihr eine Bemerkung auf der Zunge liegt.
Das kann ich nachvollziehen“, sagt sie schließlich. „Aber versteh mich bitte nichtfalsch, Kostas: Wir kommen gerade so über die Runden. Für Benzin ist einfach kein Geld da. Von mir aus nimm den Wagen, bis Katerina wieder auf dem Posten ist, aber danach solltest du wieder auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen.“
Ich könnte ihr jetzt all die schönen Redensarten aufzählen, die mir eingefallen sind, als ich unser Auto wieder in Betrieb nahm. Doch Adriani hat das Kommando über unsere Finanzen, und sie kann man ebenso wenig mit bloßen Sprüchen abspeisen wie die Troika.

Was Kommissar Charitos von Anfang an am meisten irritiert, ist die unbequeme Tatsache, dass die einzelnen Morde an dem Direktor einer privaten Nachhilfeschule, einem professionellen „Korruptionsdienstleisters“, der gegen hohe Provisionen amtliche Vorgänge und Genehmigungen höchst wirksam zu beschleunigen versteht, sowie an zwei Kleinbauern in der Provinz in keinerlei erkennbarem Zusammenhang miteinander zu stehen scheinen, noch einen direkten Bezug zu Makridis offenbar zu gleichen Teilen an bürokratischer Willkür sowie einem persönlichen Mangel an Verständnis für die griechische Mentalität gescheiterter Geschäftsidee aufweisen. Der als typischer Vertreter der zweiten Generation in Deutschland geborene Ingenieur hatte auf einer kleinen Insel in der griechischen Ägäis eine Anlage hochmoderner Windkraftanlagen bauen wollen, sich aber am jahrelang andauernden, augenscheinlich von Behördenvertretern bewusst verschleppten Genehmigungsverfahren finanziell und emotional aufgerieben.



Windkraftanlagen in Griechenland/Foto: Koliri@Wikimedia


Während sich die polizeilichen Ermittlungen aus Ermangelung an anderen vielversprechenden Ansatzpunkten zunächst darauf konzentrieren, mit Hilfe der Sondereinheit für Computerkriminalität die Identität der geheimnisvollen „Griechen der fünfziger Jahre“ als wahrscheinlicher Urheber der Bekennerschreiben und mutmaßlicher Mörder aufzudecken, wird Kostas' Tochter, die sich als niedergelassene Rechtsanwältin vor allem für die Belange illegaler afrikanischer Einwanderer einsetzt, von Mitgliedern der real existierenden rechtsradikalen Partei „Goldene Morgenröte“, die aktuell siebzehn Sitze im griechischen Parlament innehat, direkt in der Öffentlichkeit vor dem Gerichtsgebäude zusammengeschlagen und lebensgefährlich verletzt. Beinahe noch größer als der persönliche Schock über das Attentat auf seine Tochter ist für Kommissar Charitos die schmerzhafte Erkenntnis, dass Kollegen innerhalb der Polizeibehörde nicht nur zum großen Kreis der Mitwisser, sondern sogar zu den direkten Mittätern zählen und nicht davor zurückschrecken, auch ihn selbst mit Gewalt zu bedrohen.

Der unglückliche Makridis konnte als Deutscher die Tragweite der Inkompetenz nicht begreifen, weil er nicht nachvollziehen konnte, warum in Griechenland nicht die Fähigsten ausgewählt werden. Stattdessen haben wir die „Vorschriften“ erfunden, die Makridis als böse Geister erschienen sind. Aber es sind keine bösen Geister, sondern nur ein Mittel, um die Inkompetenz derer zu kaschieren, die sich durch Parteizugehörigkeit und Vetternwirtschaft einen Platz im öffentlichen Dienst erschlichen haben. Irgendwie tut er mir leid. Ich hätte ihm, wenn wir uns zu seinen Lebzeiten über den Weg gelaufen wären, alles erklären können., da ich doch aus denselben Gründen nicht befördert werde.

Auch in Kostas Charitos' viertem Fall seit Beginn der großen Krise zeigt uns Petros Markaris ein tief verletztes, gedemütigtes Land am Abgrund, dessen Bürger mit sehr viel Fantasie, Disziplin und Humor sowie einer guten Portion Fatalismus versuchen, einigermaßen menschenwürdig über die Runden zu kommen. Kostas' enger sozialer Rückhalt aus Familie, lebenslangen Freunden und neuen hilfreichen Bekannten liefert dabei im lebendigen zwischenmenschlichen Austausch erneut zahlreiche nützliche Hinweise, die dem unbestechlichen Polizisten schließlich der überraschenden Lösung dieses komplizierten Falles auf unverhoffte Art und Weise immer näher bringen. Zur klammheimlichen Freude des Lesers erweist sich am Ende jedoch wieder einmal sein natürliches Gerechtigkeitsempfinden in einem Fall außergewöhnlicher kollektiver Selbstjustiz als größer und nachhaltiger als sein per Diensteid offiziell bekundeter Wille zur Strafverfolgung.



Petros Markaris/Foto: Jost Hindersmann

Als dringend benötigten Beitrag zur kulturellen Vermittlung der verzweifelten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation Griechenlands im Ausland kann man Petros Markaris' wunderbare, unterhaltsame und leicht zugängliche Griechenland-Krimis derzeit kaum hoch genug preisen. Letztlich wird auch in „Zurück auf Start“ vorbildlich deutlich, dass es objektiv keine Alternative dazu geben kann, Griechenland mit aller Macht und allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Eine so massive politische Ausgrenzung, wie sie momentan von zahlreichen Mitgliedsstaaten der Europäische Union insbesondere von Deutschland betrieben wird, kann sich mittel- und langfristig nur auf kaum voraussehbare, äußerst schmerzvolle Art und Weise rächen.

„Zurück auf Start“, aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger, erschienen bei Diogenes, 356 Seiten, €

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