Jerusalem

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Donnerstag, 19. März 2015

„Darkmouth – Der Legendenjäger“ von Shane Hegarty

Beinahe noch aufschlussreicher für den Zustand unserer Psyche als die kaum zu leugnende Tatsache, dass die anhaltende Popularität der beiden eng miteinander verwandten Genres Fantasy und Horror in unserer nahezu ausschließlich auf wissenschaftlicher Rationalität gründenden heutigen Weltsicht offensichtlich einer großen uneingestandenen und meistenteils unbefriedigt bleiben müssenden Sehnsucht nach dem Unerklärlichen Rechnung zu tragen scheint, ist die seltsam mechanische Art und Weise der versuchten Befriedigung dieses Mangels: die mittels Lektüre einschlägiger Literatur oder durch den Konsum von entsprechenden Filmen eher intuitiv herbeigeführte Begegnung mit dem Numinosen bleibt in aller Regel lediglich im oberflächlichen Schockerlebnis verhaftet und muss daher in der direkt daraus resultierenden sofortigen Verdrängung münden, wie sie in der menschlichen Psyche angelegt ist.




Trotz des schon einigermaßen bewusst wahrgenommenen, möglicherweise gesunden Impulses zur Vergegenwärtigung des zunächst nur intuitiv erlebten Mangels wird hier also von vielen Menschen lediglich auf spielerische, rezeptive Art und Weise gleichsam erneut der natürliche Weg der Verdrängung simuliert (und auf diese Weise möglicherweise auch unbewusst legitimiert), wie wir sie nach einem traumatischen Erlebnis oder auch vom Erwachen aus einem nächtlichen Alptraum kennen, anstatt aus dieser Begegnung heraus das Wünschenswerte anzustreben, nämlich Beseitigung des Mangels durch Vergegenwärtigung des Uneingestandenen und Angstmachenden sowie dessen lebendige Integration in den Alltag, selbstverständlich auch mit den Mitteln des menschlichen Verstandes.

Finn lag auf dem Rücken, der beißende Atmen der Verseuchten Seite wich aus seiner Lunge. Seine Mutter kauerte neben ihm und hustete, während Emmie und Steve sie zu beruhigen versuchten. Finn streckte den Arm aus und berührte die Hand seiner Mutter.
Das Tor erlosch.

Es scheint in diesem Zusammenhang durchaus interessant, dass nahezu alle Filme des zweifellos nicht ohne Berechtigung vornehmlich dem Horror-Genre zugerechneten erfolgreichen Hollywood-Regisseurs M. Night Shyamalan (mit Ausnahme seines enigmatischen Durchbruchs „The Sixth Sense), dessen Charaktere in der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten meistenteils vollkommen individuelle, in hohem Maße eigenständige Wege heilsamer Integration durch liebende (Selbst-)Annahme einschlagen, von der Filmkritik wie vom breiterem Publikum in auffälligem Maße sehr viel weniger angenommen werden als oberflächliche Schocker, die das Angstbesetzte vollkommen im Bereich des Unbewussten und des zu verdrängenden Alptraums belassen, aus dem man am Ende in der scheinbaren Gewissheit „erwacht“, es sei ja alles wieder gut.

Es ist keine Karte. Es ist ein Satz. Nur ein Satz. Und nicht mal in Dads Handschrift.“
Wie lautet er?“, fragte Emmie.
Finn las ihn laut vor. „Erleuchte das Haus.“

Wer aber offenen Auges und bewusst auf das unerklärlich Scheinende zugeht, sollte sich diesem schon allein aus Eigeninteresse auch stellen, wenn er nicht lediglich seinen vorherrschenden Zustand des Unbewusst-Seins inszenieren will – das aber wäre ein fundamentales Paradox, eine grenzenlose Absurdität. Dass weltoffene Konsequenz und Nachhalt hier jedoch zu außergewöhnlich heilsamen Bildern führen können, zeigt der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona auf eindrucksvolle Art und Weise in der ebenso großartigen wie unvergesslichen Schlussszene seines international erfolgreichen Erstlingsfilms „Das Waisenhaus“ (2007): seine vielfach gebrochene Protagonistin erlebt im eigenen, selbst herbeigeführten Tod schließlich eine so umfassende Vereinigung mit den eigenen, zuvor nur unbewusst in ihr selbst angelegten Lebensthemen, dass der Zuschauer allein durch die reinigende Kraft dieser Bilder intuitiv begreift, wie psychische Heilung gelingen kann – ja geradezu selbst davon geheilt wird und gefühls- wie verstandesmäßig jederzeit zu diesen Bildern zurückkehren kann.



Vor diesem komplizierten, aber angesichts des lang anhaltenden Erfolgs des Fantasy-Genres hartnäckig aufzuzeigenden Hintergrund scheint es mehr als angemessen zu behaupten, dass die im Februar mit großen Erwartungen gestartete neue Jugendbuch-Reihe „Darkmouth“ des irischen Schriftstellers und ehemaligen Standup-Comedians Shane Hegarty trotz ihrer selbstironischen, humoristischen Grundhaltung im positiven Sinne sehr viel weiter geht als manch anderer „ernsthafter“ und vor allem ernst gemeinter Vertreter dieses Genres: Der geistig aufgeweckte zwölfjährige Finn, der als zukünftiger letzter professioneller Bezwinger und Vernichter des hier kurioserweise als „Legenden“ bezeichneten pittoresken Wirrwarrs aus bekannten bösartigen Monstern der Mythologien der Welt vom Wolpertinger bis zum Minotaurus in die Fußstapfen seines berühmten Vaters treten soll, schreckt vor der ihm zugedachten Aufgabe innerlich zurück.

Und es ist ja auch eine ganze Weile niemand mehr von einem Monster gefressen worden.
Im Grunde sind es gar keine Monster. Sie sehen zwar wie Monster aus, und die Einheimischen nennen sie oft auch so, aber genau genommen sind es Legenden. Mythen. Fabeln. Vor langer, langer Zeit haben sie sich einmal die Erde mit den Menschen geteilt.

Das wichtigste Kunststück, an dem sich Finn in Hinblick auf seine demnächst anstehende Prüfung als Legendenjäger seit Monaten erfolglos abarbeitet, die Verwandlung von Eindringlingen aus der durchlässigen Gegenwelt, der „Verseuchten Seite“, auf die die Legenden in alter Zeit verbannt wurden, in kleine, immer noch belebte, aber gänzlich ungefährliche Kugeln, und zwar mit Hilfe einer „Exsikkator“ genannten, kompliziert zu handhabenden Waffe, ist ihm schon diverse Male auf spektakuläre und lebensgefährliche Art und Weise misslungen. Überhaupt scheint es ihm allzu grausam, die wenigen Legenden ganz zu vernichten, welche es von Zeit zu Zeit schaffen, in die reale Welt einzudringen, und er träumt insgeheim davon, den Ungeheuern auf unbestimmte Art und Weise zu helfen, so wie seine Mutter in ihrem bürgerlichen Beruf als Tierärztin kranken und verletzten Tieren hilft wieder gesund zu werden.

Hör mal, Finn, sei nicht so hart zu dir. Du hast deine Sache gut gemacht. Vielleicht warst du hier und da noch nicht ganz so treffsicher, aber schließlich hast du kein entlaufenes Huhn gejagt. Und eingeschnappt musst du auch nicht sein. Die meistern Zwölfjährigen würden dafür sterben, einer Legende nachjagen zu dürfen.“
Sterben?“, wiederholte Finn.
Du weißt, was ich meine.“
Finns Vater sah ihm noch einen Moment fest in die Augen, ehe er ihm sanft gegen den Arm boxte und anschließend die geschrumpften Überreste des Minotaurus aufhob.



Während auf der Verseuchten Seite, wie wir als gut unterhaltene Leser parallel zur Haupthandlung erfahren, der grausame Riese Gantrua als größenwahnsinniger, selbsternannter Anführer aller Legenden einen heimtückischen Plan zur konzertierten Invasion der realen Welt ausheckt, bemerkt Finn, dass seine neue Schulfreundin Emmie ein verdächtiges Interesse für die umfangreiche, im elterlichen Haus verborgene, hunderttausende Exemplare zählende Sammlung von exsikkierte Monster in sich bergenden Kugeln entwickelt. Und was ist eigentlich mit seinem verschollenen Großvater geschehen, einem Legendenjäger wie alle seine Vorfahren, dessen Ehrfurcht gebietendes, irritierendes Porträt in der umfangreichen familiären Ahnengalerie hängt, und der, wie Finns Vater immer wieder abfällig betont, „alles im Stich gelassen“ habe, was er eigentlich schützen sollte.

Aber Finn rannte nicht. Er hatte für diese Situation trainiert. Er war für sie geboren. Er wusste, was von ihm erwartet wurde und was er zu tun hatte. Außerdem würde sein Vater enttäuscht sein, wenn er jetzt wegrannte. Schon wieder.
Ich werde da sein, wenn du mich brauchst, hatte Finns Vater heute Morgen zu ihm gesagt.
Doch als Finn auf den Knopf seines Funkgeräts seitlich am Helm drückte und flüsterte: „Dad? Bist du da?“, war die einzige Antwort ein gleichgültiges statisches Knistern.

Mit Hilfe der rätselhaften Emmie gelingt es dem Jungen eines Nachmittags, einen kleinen, in die reale Welt eingedrungenen und von seinem Vater exsikkierten Hogboon wieder zurückzuverwandeln, ein gnomartiges, verschrobenes Wesen mit „spindeligen Gliedern“, das „alles, was ihm an körperlicher Kraft fehlt, durch die Länge seiner Ohren, die schiefen Zähne, die grüne Haut und seine üblen Scherze wieder ausglich“. Von diesem im Grunde harmlosen und nicht wenig originellen Geschöpf erfährt er zu seiner maßlosen Überraschung, dass ausgerechnet er selbst auf der Verseuchten Seite als größter, gefährlichster und mächtigster zukünftiger Gegner gilt, derlaut einer Prophezeiung nur dann bezwungen werden kann, wenn es den Legenden mit vereinter Kraft gelingt, ihn in die Gegenwelt zu locken. Obwohl ihm dieses vom kleinen Hogboon lebhaft ausgemalte Szenario vollkommen unwahrscheinlich erscheint, sieht sich Finn schon bald hilflos einer Kette von Ereignissen ausgeliefert, die ihn bis an die Grenze zur Verseuchten Seite führen und ihm am Ende des Buches eine Entscheidung von kaum absehbarer Tragweite abverlangen.

Shane Hegarty

Mit dem auch buchkünstlerisch ausgesprochen liebevoll gestalteten Auftaktband zu seiner auf sechs Bände angelegten Darkmouth-Reihe ist dem Autor ein wunderbar humorvoller, ausgesprochen unterhaltsamer bunter Reigen aus wunderbaren Charakteren und spannenden Handlungsfäden gelungen, der ohne Zweifel viel dankbaren Stoff für den weiteren Verlauf der Serie zu bieten hat und es dabei ohne weiteres mit herausragenden Jugendbuch-Klassikern des Fantasy-Genres wie „Artemis Fowl“ von Eoin Colfer oder Herbie Brennans wunderbarer „Elfenportal-Reihe“ aufnehmen kann. Die spannendste Frage wird sein, ob es Shane Hegarty auf irgendeine Weise gelingen wird, die Gegenwelt der Legenden in die reale Welt zu integrieren. „Der Legendenjäger“ als Auftaktband bietet allerdings genug Anhaltspunkte für die berechtigte Hoffnung, dass die Darkmouth-Serie letztlich ebenso viel halten könnte, wie sie schon jetzt zu versprechen scheint.

„Darkmouth– Der Legendenjäger“, aus dem Englischen von Bettina Münch, erschienen bei Oetinger, 368 Seiten, € 16,99

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