Jerusalem

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Donnerstag, 4. Dezember 2014

„Sangre Kosher“ von María Inés Krimer

Menschenhandel und Zwangsprostitution sind zwar eindeutig keine Erfindungen der Neuzeit, ohne Zweifel jedoch können wir gerade diese beiden Erscheinungsformen moderner Sklaverei heutzutage aufgrund unserer nahezu lückenlosen globalen Vernetzung eindeutig besser dokumentieren und bekämpfen als etwa in der Antike oder in der Renaissance. In jedem Fall besser auch als noch vor gut hundert Jahren, als – was kaum jemandem in Europa bewusst ist – jüdische Mafiabanden vor allem in Brasilien und Argentinien ein weitverzweigtes, perfekt organisiertes und gut funktionierendes Netzwerk errichtet hatten, das über ihre Mittelsmänner insbesondere in den ärmlichen und stets von gewalttätigem Antisemitismus bedrohten jüdischen Gemeinden Osteuropas gezielt auf Menschenfang ging, um über viele Jahrzehnte weitgehend unbehelligt tausende argloser jüdischer Frauen nach Südamerika zu verschleppen, welche sie zumeist glauben gemacht hatten, eine verheißungsvolle arrangierte Ehe in der sagenumwobenen Neuen Welt einzugehen, sie dort stattdessen aber brutal zur Prostitution zwangen.


Diese vornehmlich im Verborgenen operierenden Verbrecherorganisationen konnten in jenen unabhängigen südamerikanischen Staaten, auf die sie ihre kriminellen Aktionen konzentriert hatten, durch den ungehemmten, regelmäßigen Gebrauch von physischer und psychischer Gewalt, politischen Drohgebärden sowie Bestechung oft einen erheblichen gesellschaftlichen Einfluss vorweisen, der sie in die bequeme Lage versetzte, meistenteils unbehelligt von Polizei und Behörden ihren weitverzweigten Geschäften nachzugehen. Aus historischer Perspektive berichtet der brasilianische Schriftsteller Ronaldo Wrobel über die Praktiken dieser skrupellosen jüdischen Menschenhändler, etwa in seinem wunderbaren, soeben als Taschenbuch erschienenen Roman „Hannahs Briefe“, während die in ihrer Heimat vielfach ausgezeichnete argentinische Autorin María Inés Krimer diese zum authentischen pittoresken Hintergrund ihres soeben erst ins Deutsche übersetzten humorvoll-ironischen Noir-Krimis „Sangre Kosher“ macht, einer absolut hinreißenden, in hohem Maße originellen Neuentdeckung für die internationale Krimilandschaft.

Manchmal fragte ich mich, woher mein Interesse an der Zwi Migdal stammte. Die Figuren und Geschichten, die sie zu bieten hatte, übertrafen an Phantastik alles, was sich ein Schriftsteller hätte ausdenken können. Jedes Mal wenn ich nachmittags allein im Archiv saß und wartete, dass vielleicht das eine oder andere Kind nach der schul bei mir vorbeisah, nahm ich mir ein neues Kapitel dieser Geschichte vor, die ich aus irgendeinem Grund auch als die meine betrachtete. Außerdem versuchte ich, mich dadurch für meine feuchte Zwei-Zimmer-Wohnung, die Zeitungsstapel auf dem Schreibtisch, die Kakerlake, die Morgen für Morgen durch meine Küche spazierte, und meine unmäßige Neigung zu Süßspeisen zu entschädigen.

María Inés Krimers durch liebevoll-lebensnahe, empathische Charakterzeichnung in all ihrer menschlichen Unvollkommenheit für den Leser unwiderstehliche, ebenso neugierige wie schlagfertige Protagonistin Ruth Epelbaum war über lange Jahre Leiterin des jüdischen Gemeindearchivs einer argentinischen Kleinstadt gewesen. Seitdem ihr der Vorstand allerdings per Mehrheitsbeschluss wegen ihrer mittlerweile allzu tiefen Einblicke in die Gemeindestrukturen die freiwillige Kündigung nahegelegt hat, lebt die alleinstehende desillusionierte Mittvierzigerin nun schon seit einigen Jahren in Buenos Aires, wo sie ihren bescheidenen Lebensunterhalt mit allerlei unbedeutenden Gelegenheitsjobs sowie fallweise auch als resolute und scharfsinnige Privatdetektivin bestreitet. Bei der Beerdigung einer entfernten Kusine, die erst kürzlich während des Haarefärbens im Friseursalon verstorben war, erhält sie von dem Juwelier Chiquito Gold unerwartet den unkompliziert scheinenden Auftrag, dessen Tochter zu suchen, die seit über einer Woche spurlos verschwunden ist.

Calle Libertad am Abend

Jede Stadt besteht in Wirklichkeit aus mehreren Städten, das habe ich immer wieder festgestellt. Sobald man sein übliches Viertel verlässt, verschwinden die gewohnten Gesichter, und auf einmal sieht man lauter Leute, die man längst vergessen oder für tot gehalten hatte. Diese schwindelerregende Erfahrung machte ich einmal mehr in der Calle Libertad.

Ihre unmittelbar darauf mit großem Tatendrang begonnenen Recherchen, die von ihrer neugierigen Schickse Gladys ungefragt immer wieder mit unverhofftem Rat und nützlicher Tat unterstützt werden, führen Ruth zunächst in ein luxuriöses Fitnessstudio, wo sie gleich beim ersten Besuch zahlreiche für den weiteren Verlauf der Handlung ausgesprochen wichtige Protagonisten kennenlernt: einen dynamisch-durchtrainierten glatzköpfigen Bundesrichter, eine offenherzige Rezeptionistin mit eindrucksvoll dimensionierten künstlichen Brüsten sowie jenem jungen umschwärmten Fitnesstrainer, der auf dem letzten Foto von Chiquitos vermisster Tochter gemeinsam mit ihr vor einem eleganten Ferienhaus im Paraná-Delta posiert hatte, einem beliebten Naherholungsgebiet der besseren Gesellschaft von Buenos Arires. Doch noch bevor sie den Coach bei nächster Gelegenheit eingehend befragen kann, hat er sein Leben bereits unter kläglichen Umständen in einer öffentlichen Toilette ausgehaucht, was Ruth unmissverständlich klar macht, dass ihre Recherche weit über das Aufspüren einer möglicherweise aus eigenem Antrieb durchgebrannten, eingebildeten Juwelierstochter hinausgehen könnte.

Ich dachte an die Leiche der jungen Frau. Ihre völlig aufgeweichte Haut. Die an Hals, Kinn und Stirn klebenden Blätter. Die aufgerissenen Augen. Den Schaum vor dem Mund. Ich empfand nichts besonderes für diese Frau. Aber der, der sie ins Wasser geworfen hatte, konnte das Gleiche, oder noch Schlimmeres, mit Débora getan haben. Und mit mir würde er es vielleicht auch tun.

Auf der Suche nach dem auf dem Foto abgebildeten Bungalow stößt Ruth zielsicher auf die im Fluss treibende Leiche einer anderen jungen Frau, die offensichtlich am selben Tag wie Débora Gold verschwunden ist, wie sich schon bald herausstellt. Und in dem leerstehenden Ferienhaus scheinen am Wochenende regelmäßig rauschende Partys stattzufinden, eine verwirrt scheinende Indianerin als unzuverlässige Zeugin will dabei nicht nur stets einen deutlichen Frauenüberschuss beobachtet haben, sondern auch, dass die wenigen teilnehmenden Männer immer allesamt sehr viel älter seien als die ausnehmend attraktiven jungen Frauen. Als Ruth unter geheimnisvollen Umständen eine brutale Videodatei zugestellt wird, beginnt sie langsam zu argwöhnen, dass die jüdische Mafiaorganisation Zwi Migdal, die nach offizieller Verlautbarung seit mehr als achtzig Jahren nicht mehr aktiv sein soll, in Wahrheit lebendiger sein könnte als die Öffentlichkeit glaubt.

 María Inés Krimer/Foto: Alejandro Guyot

Mit „Sangre Kosher“, dem ersten Band einer als Reihe angelegten Krimiserie um die sympathische jüdische Privatdetektivin Ruth Epelbaum, bereichert der kleine Verlag Diaphanes im Rahmen seiner von Thomas Wörtche herausgegebenen Reihe Penser Pulp den unter dem zyklusartig verlaufenden Einfluss dominierender Großtrends betont eintönigen deutschsprachigen Krimimarkt einmal mehr um eine weitere überraschende schillernde Facette, die dem glänzend unterhaltenen Leser auf eindrucksvolle Art und Weise vor Augen zu führen versteht, dass selbst die unscheinbarsten (Sub-)Kulturen immer wieder auch ein dankbares Objekt für umsichtige soziale Recherche mit dem Mittel spannender Kriminalliteratur sein können und unseren Blick auf die Gesellschaft somit höchst nützlich zu bereichern vermögen. Auf weitere Bände der Reihe darf man sich jetzt schon freuen!

„Sangre Kosher“, aus dem argentinischen Spanisch von Peter Kultzen, erschienen bei Diaphanes, 198 Seiten, € 17,95

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