Jerusalem

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Dienstag, 30. Dezember 2014

„Kälte, Wind und Freiheit“ von Robert Peroni

In seinem packenden Expeditionsdrama „Spielplatz der Helden“ (1988), dem möglicherweise besten und psychologisch ausgefeiltesten seiner frühen Romane, berichtet Michael Köhlmeier von der aufsehenerregenden Durchquerung des grönländischen Inlandeises über 1400 Kilometer innerhalb von 88 Tagen durch drei Südtiroler Extremsportler allein aus eigener Kraft, mit selbstgebauten Schlitten, ohne Funkkontakt und ohne Lebensmitteldepots im Jahr 1983. In der existenziellen Auseinandersetzung mit sich selbst und den übermächtigen Naturgewalten zerstritten sich die drei Teilnehmer der Expedition so nachhaltig, dass sie nach erfolgreich vollbrachter Tat nicht nur jeglichen persönlichen Kontakt abbrachen, sondern sich nicht einmal mehr gegenseitig grüßten, wenn sie einander im heimischen Bozen zufällig auf der Straße begegneten.



Noch in seiner 2011 erschienenen, nach archetypischen Motiven und Themenschwerpunkten gegliederten Märchenauswahl „Märchen Dekamerone – Eine Weltreise in hundert Geschichten“ erinnert sich Michael Köhlmeier in der Vorrede zum Kapitel „Drei“ an ein aufschlussreiches Gespräch mit dem Leiter des waghalsigen Unternehmens, dem 1944 geborenen Extrembergsteiger und Abenteurer Robert Peroni:

Er hat mir ausführlich von diesem fatalen Abenteuer erzählt. Er war der Meinung, dass man so eine gefährliche Reise nur zu dritt überleben kann. Und dass man sie nur überleben kann, wenn man streitet. Und je gefährlicher und strapaziöser das Unternehmen ist, desto heftiger und radikaler muss der Streit sein, soll die Reise nicht mit dem Tod aller enden. […] Zwei streiten, der Dritte ist der Verbündete, der wird gebraucht, um sich über den anderen lustig zu machen, um sich bestätigen zu lassen, dass man selber Recht hat. […] Der Dritte ist der wahre Held der Expedition. Er muss ein Lügner sein, er muss ein Psychologe sein, er muss ein Gefühl für Timing haben, er muss voll Niedertracht und zeitgleich voll Menschenliebe sein, er muss den Menschen verachten und ihn zugleich in seiner Hinfälligkeit und Schwäche verstehen. […] Der Dritte repräsentiert die Welt, er hat Erwartungen an die Zukunft, er erinnert sich an die Vergangenheit; er führt durch den Sturm, durch die Nacht, durch die Kälte. In ihm seht ihr euch gespiegelt, sowohl wie ihr seid, als auch, wie ihr gern sein wollt. Dem Dritten ist es zu verdanken, wenn ihr überlebt.

Zu Robert Peronis dieses Jahr vollendetem siebzigsten Geburtstag ist nun im auf erzählende Reiseliteratur spezialisierten Malik-Verlag in München ein ausgesprochen wichtiges und lesenswertes Buch erschienen, in dem der lebenserfahrene Forscher und Abenteurer nun selbst von der nach seiner eigenen Aussage wichtigsten Reise seines Lebens berichtet. Dabei deutet schon der möglicherweise irreführende Untertitel Wie die Inuit mich den Sinn des Lebens lehrten an, dass es sich dabei nicht um einen Abenteuerbericht im herkömmlichen Sinne handelt, wie es das an sportlichen Extremen so überaus reiche Leben des Südtiroler Ausnahmeathleten zu versprechen scheint.

Die Hochebene

Die letzten Expeditionen hatten einen schalen Nachgeschmack hinterlassen: übermächtige Sponsoren, eine neue Generation von Expeditionsteilnehmern, die immer mehr Athleten und immer weniger Bergsteiger waren, Geldgeber, die konkrete Ergebnisse verlangten, und eine nach außen hin zwar partnerschaftliche Atmosphäre, die jedoch sofort verflog, sobald einer der Teilnehmer sich selbst beweisen wollte. Und ich mittendrin, um Frieden zu stiften. Ich war das alles so leid. […] Ich hatte immer meine Kollegen kritisiert, die eine gewisse Sammlermentalität an den Tag legten – jetzt der Achttausender hier, dann eine unerforschte Wüste dort und danach vielleicht eine Polardurchquerung –, aber inzwischen war auch ich in diesem Räderwerk gefangen. Sobald man eine Expedition abgeschlossen hatte, galt es sofort eine neue zu finden, die noch spektakulärer, noch extremer war, ganz so, wie es die Sponsoren liebten, die sich davon einen guten Werbeeffekt versprachen.

Von seiner kräftezehrenden Grönlandexpedition war auch Robert Peroni 1983 innerlich verändert zurückgekehrt. Die Erlebnisse im lebensfeindlichen Eis der von den einheimischen Inuit als vermeintliches Dämonengebiet gemiedenen Hochebene ließen Peroni nie los und bewirkten, dass er in den darauffolgenden Jahren regelmäßig für mehrere Monate nach Grönland zurückkehrte und sich schließlich, Anfang der 1990er Jahre, dauerhaft und endgültig dort niederließ, um das sogenannte Rote Haus, ein Hotel und kulturelles Begegnungszentrum, zu gründen: die kaum erforschte, für westliche Maßstäbe so schwer zu begreifende und trotz ihrer perfekten Anpassung an die extremen Lebensbedingungen des Polarkreises heute massiv vom Aussterben bedrohte Kultur der Inuit hatte ihn innerlich so gepackt, dass er letztlich die wesentliche Aufgabe seiner zweiten Lebenshälfte in der kulturellen Vermittlung zwischen der ebenso archaischen wie bewährten Lebensweise der Inuit und der vermeintlicherweise höher entwickelten westlichen Zivilisation erkannte und auch annahm.

Polarlicht 

Die unter den lebensfeindlichen Bedingungen ihres Lebensraums nahezu ausschließlich auf Robbenjagd gründende Kultur der Inuit, deren wesentliches Merkmal ein dem alltäglichen Kampf um Nahrung gewidmetes hoch entwickeltes Sozialleben ist, in dem jedem einzelnen Mitglied der Sippe eine wichtige Aufgabe im Rahmen seiner individuellen Talente und Fähigkeiten zukommt, hat in der ihr durchaus wohlmeinend gegenüberstehenden westlichen Zivilisation erstmals einen Widersacher gefunden, auf den sie keine angemessene Antwort findet. Während die Wikinger, die sich immerhin über dreihundert Jahre in Grönland aufhielten, dort aber schließlich regelrecht ausstarben, weil sie nicht fähig waren, sich auf die vorgefundenen Bedingungen einzustellen, haben die Inuit, wie andere an extreme Bedingungen angepasste Völker wie zum Beispiel die Tuareg in der Sahara, immer einen Vorteil aus ihrer idealen Anpassung gezogen, der Fähigkeit, sich selbst in Beziehung zu den Umständen zu setzen.

Wenn jemand jedoch in dieser großen weißen Eislandschaft lebt, wo der Schnee meterhoch liegt, kommt er nicht umhin, sich damit ganz unmittelbar auseinanderzusetzen. Er wird ganz automatisch denken: „Was soll ich jetzt tun?“ Und so redet er mit dem Schnee und ist überzeugt, dass der ihm antworten wird. Oder mit dem Wind, weil er hofft, dass er auf ihn hört und sich legt. Der Schamanismus ist genau das: die Philosophie der Natur. Eine sehr einfache zwar, aber doch eine Philosophie. Dahinter steht weder ein Denksystem noch eine kirchliche Hierarchie: Niemand hat je eine Bibel des Schamanismus geschrieben. Die Geschichten wurden stets mündlich überliefert. Auch weil es nicht viel zu erklären gibt: man begreift instinktiv, worum es geht.

In dieser besonderen Fähigkeit äußert sich aber nicht nur eine allumfassende, gleichsam natürliche Art von Spiritualität, die Peroni seit seiner Kindheit vertraut ist und die er auch in seinen eigenen Expeditionen stets im naiven Dialog mit der Natur am Leben gehalten hat, wie er in seinem Buch anhand zahlreicher einprägsamer Beispiele immer wieder veranschaulicht. Die Weltsicht der Inuit ist so universell und dabei stets auf Toleranz gegenüber anderen Meinungen bedacht, dass sie gleichzeitig auch eine erhebliche, kaum zu leugnende politische Dimension aufweist und somit auch für uns eine wichtige persönliche und gesellschaftliche Vorbildfunktion erfüllen kann.

Eisberg

Hier nimmt das übergeordnete Thema von Köhlmeiers Roman nicht nur auf wunderbare Weise den inneren Kern von Peronis fünfundzwanzig Jahre später entstandenem Buch vorweg, sondern manifestiert auch einen im Verlauf dieser Zeit stetig angewachsenen erheblichen Mangel innerhalb der westlichen Kultur, der heute von vielen Menschen erkannt und beklagt wird. Die Protagonisten in Köhlmeiers Roman versuchen unablässig sich in Beziehung zur feindlichen Natur und zu ihren Leidensgenossen zu setzen, worin wir ohne Zweifel eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit erkennen müssen. Diese Fähigkeit haben die Inuit wie kaum ein anderes Volk auf höchstem Niveau perfektioniert, während in unserer Gesellschaft eine willentliche Kultur der Abgrenzung herrscht: so gilt es als höchste Errungenschaft und Gipfel individueller wie kollektiver Urteilskraft, sich von einer eindeutig pathologischen Bewegung wie Pegida abzugrenzen, die nichts anderes tut als eine kollektive psychische Störung in der Öffentlichkeit zu kultivieren. Hier erweist sich die Weltsicht der Inuit als vollendete Kultur eines lebendigen, vorurteilsfreien Pluralismus.

Man muss nicht gleich Worte wie „Toleranz“ oder „Respekt“ in den Mund nehmen, die es in ihrer Sprache nicht einmal gibt. Diese Aufgeschlossenheit gegenüber dem Nächsten ist ein ganz natürliches Verhalten der Inuit und vielleicht, wie immer, durch ihre Geschichte bedingt: Wie kann man sich streiten, wenn man auf wenigen Quadratmetern zusammenleben muss und draußen vierzig Grad unter null herrschen? Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man wird gewalttätig, doch in diesem Fall wäre das ganze Volk vermutlich innerhalb weniger Generationen ausgestorben, oder man muss ein äußerst sanftes Wesen entwickeln. Alle waren zu sehr damit beschäftigt zu überleben, um böse zu sein oder den Nachbarn zu hassen.

Die willentliche Abgrenzung entspricht aber auch dem wesentlichen Antrieb des konventionellen Abenteurers, dessen waghalsige Expeditionen dem Wesen nach eher radikal ausgelebte Egotrips als Kommunikation mit der Natur sind. Von dieser beschränkten Sichtweise hat sich Robert Peroni mit seinem beherzten Eintreten für die Belange der Inuit endgültig gelöst, auch wenn er für die Zukunft dieses bedrohten Volkes nur wenig Hoffnung sieht. Sein ebenso packendes wie nachhaltig inspirierendes Buch entspricht so gar nicht den landläufigen Erwartungen an einen Abenteuerbericht und weist doch gleichzeitig weit darüber hinaus, auf ein vielfach größeres Abenteuer, das uns schließlich ermöglicht, die Welt mit anderen Augen, vielleicht sogar aus einem umfassenderen Blickwinkel als bisher zu betrachten. In Bezug auf die Inuit äußert sich das Versagen unserer westlichen Zivilisation aber auch in unserem kulturell bedingten Unvermögen zu erkennen, wo wir in unseren scheinbar lobenswerten sozialen und ökologischen Bemühungen den Belangen der Inuit nicht gerecht werden, scheint doch unsere Blindheit ein Symptom unserer Kultur.

Robert Peroni/Foto: Moreno Bartoletti

In seinem suggestiven Roman "Teryky" erzählt der tschuktschische Dichter Juri Rytchëu von einem einsamen Polarjäger, der nach einer lebensgefährlichen Irrfahrt auf einer Eisscholle schließlich als Dämon zu seiner Sippe zurückkehrt. Diese Sichtweise entspricht in wesentlichen Punkten der mündlichen Überlieferung der Inuit, die besagt, dass wer sich aus freier Entscheidung in unvorhersehbare tödliche Gefahr in lebensfeindlicher Umgebung begibt – in Dämonenland sozusagen – nur überleben kann, indem er das Menschliche abstreift und selbst zum Dämon wird. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Robert Peroni auf der Hochebene Grönlands – anders als es die mündliche Überlieferung der Inuit besagt und anders als viele seiner besessen scheinenden ehemaligen Kollegen – seine persönlichen Dämonen endgültig losgeworden ist. Innerhalb der unermesslich weiten Landschaften des menschlichen Geistes kann man sich kaum eine größere persönliche Leistung vorstellen.

„Kälte, Wind und Freiheit“, aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt, erschienen bei Malik, 238 Seiten, € 22,99

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