Jerusalem

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Dienstag, 30. September 2014

„Gelebtes Leben“ von Emma Goldman

Wenn man entgegen der am weitesten verbreiteten Auffassung unserer Zeit geneigt ist, das weite Feld der Politik nicht etwa als lebensfremd und realitätsfern, sondern vielmehr als nicht eben unbedeutenden Teil des täglichen Lebens zu begreifen, dann kann die fast tausend Seiten umfassende Autobiografie der berühmten amerikanischen Anarchistin, Feministin und Friedensaktivistin Emma Goldman (1869-1940) weit mehr als ein nostalgischer Gruß aus unendlich fern scheinenden Zeiten sein, in denen das aus unserer Perspektive geradezu rührend anmutende Berufsbild des professionsmäßigen Revolutionärs nicht gerade selten war.




„Gelebtes Leben“ („Living My Life“, 1931) ist in der Tat ein äußerst treffender Titel für ein in dieser Ausgabe um ein erstmals übersetztes Nachwort der Autorin und einen erhellenden einleitenden Essay von Ilija Trojanow ergänztes lebenspralles Werk, das vor allem leidenschaftlicher Ausdruck der hellwachen, allaufmerksamen Betroffenheit sowie des unermüdlich-vitalen gesellschaftlichen und politischen Engagements seiner Autorin ist, aber auch Zeugnis ihrer tief empfundenen Liebe zum Leben als allumfassendem Kampf für die Befreiung des Individuums von jeglichen es in seiner persönlichen Entwicklung einschränkenden Faktoren.

Mein Leben, so wie ich es gelebt habe, verdanke ich allen, die hineingekommen sind, kurze oder lange Zeit verweilten und es wieder verließen. Ihre Liebe, ebenso wie ihr Hass, haben es lebenswert gemacht.

Die im heutigen litauischen Kaunas geborene Tochter eines jüdischen Theaterdirektors war von frühester Jugend an geprägt vom Elend der russischen Arbeiterklasse, mit revolutionärem und anarchistischem Gedankengut kam sie bereits vor ihrer im Alter von siebzehn Jahren erfolgten Emigration nach Amerika als junge Fabrikarbeiterin in Sankt Petersburg in Berührung. Die Arbeitsbedingungen in den USA bestärkten sie in ihren radikalen politischen Ansichten und nach ihrer Flucht aus einer unglücklichen Ehe in die aufkommende Metropole New York entwickelte sie sich durch die persönliche Bekanntschaft mit wichtigen amerikanischen Vordenkern der anarchistischen Bewegung wie Johann Most und ihrem langjährigen Geliebten und lebenslangen engen Freund Alexander Berkman alsbald selbst zu einer der Schlüsselfiguren der radikalen amerikanischen Arbeiterbewegung.




Ihre langjährige feste Auffassung, dass politisch motivierte Gewalt einschließlich Mordes als wichtiges Mittel zur Herbeiführung gesellschaftlichen Wandels anzusehen sei, modifizierte sie erst nach ihrer Ausbürgerung und Deportation nach Russland durch die USA im Jahr 1919 angesichts des für sie vollkommen desillusionierenden hautnahen Erlebnisses der Folgen der russischen Oktoberrevolution: die unweigerlich in Staatsterror mündende Entwicklung der noch jungen Sowjetunion sah sie bereits in den zwei Jahren ihres dortigen Aufenthalts, also lange vor Stalin voraus und vertrat von nun an die Ansicht, dass Gewalt lediglich als Mittel der Verteidigung im revolutionären Kampf als legitim anzusehen sei, jedoch nie zum eigentlichen Prinzip erhoben werden dürfe, da solcher institutionalisierter Terrorismus letztlich konterrevolutionär wirke.

Mein Leben – ich hatte es gelebt mit seinen Höhen und Tiefen, in bitterer Trübsal und jauchzender Freude, in schwarzer Verzweiflung und fiebernder Hoffnung. Ich hatte den Kelch bis zum letzten Tropfen geleert. Ich hatte mein Leben gelebt. Würde ich die Gabe haben, dieses mein Leben zu schildern?

Eine der hervorstechendsten Qualitäten von Emma Goldmans Memoiren ist die Tatsache, dass sie die Gefahren und Fehlentwicklungen des historischen Anarchismus zu keiner Zeit beschönigt und uns als Leser die einmalige Gelegenheit gibt, ihre persönliche und politische Entwicklung aus erster Hand miterleben zu dürfen. Neben ihren politischen Kämpfen erhalten wir auch erstaunlich offenen Einblick in ihr von dem Prinzip der „freien Liebe“ geprägtes Sexualleben und erleben eine faszinierende, kostbare, absolut wegweisende Frauenpersönlichkeit von außergewöhnlicher Strahlkraft, über die Ilija Trojanow in seinem Vorwort, Albert Einstein absichtlich falsch zitierend, vollkommen zu Recht sagt: „Zukünftige Generationen werden kaum glauben können, dass ein Mensch wie sie jemals auf Erden gewandelt ist.“

„Gelebtes Leben“, aus dem Englischen von Marlen Breitinger, Renate Orywa und Sabine Vetter, erschienen bei Edition Nautilus, 927 Seiten, € 24,90

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