Jerusalem

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Dienstag, 12. August 2014

„Wörterbuch einer verlorenen Welt“ von Alba Arikha

Eine der meistzitierten und treffendsten poetischen Vergegenwärtigungen eigener Kindheit und Jugendzeit stammt aus dem fünften Kapitel von Friedrich Hölderlins sperrig-genialem Briefroman „Hyperion“: „Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken!“ – Besonders kennzeichnend für die charakterliche Entwicklung des Menschen im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein ist in aller Regel der in der persönlichen Rückschau besonders schmerzliche Verlust der natürlichen Fähigkeit radikaler Gegenwärtigkeit und einer ganz dem Erleben des jeweiligen Augenblicks gewidmeter konzentriertester Wachheit, die trotz ihres grundsätzlich spielerischen Charakters dennoch gerade aus ihrer aufmerksamen Beobachtungsgabe heraus höchst präzise Schlussfolgerungen zu ziehen vermag, welche der vom erlernten Denken geprägten Wahrnehmung des Erwachsenen oftmals entgehen. Hölderlins Aufforderung, die eigene Kindheit zu denken, kann somit nur der erste Schritt zur einer grundsätzlichen Veränderung der Wahrnehmung sein, was sicherlich einer der schwersten Aufgaben ist.


In ihrem großartigen, atemlos zu lesenden Erinnerungsbuch „Wörterbuch einer verlorenen Welt“ gelingt es der französischen Musikerin und Schriftstellerin Alba Arikha, Tochter des französisch-israelischen bildenden Künstlers Avigdor Arikha (1929-2010), ihre eigene Kindheit als Tochter eines zutiefst traumatisierten Holocaust-Überlebenden auf so unnachahmliche, unwiderstehliche und gleichzeitig tiefgründige und berührende Art und Weise so zu denken und literarisch treffend zu vergegenwärtigen, dass wir als aufmerksame Leser die charakteristischen Koordinaten ihrer Kinder- und Jugendzeit als typische Vertreterin der Zweiten Generation unwillkürlich mit denselben wachen Sinnen der Erzählerin gleichsam an ihrer Stelle noch einmal mit- und nacherleben dürfen und somit ein viel umfassenders und direkteres Begreifen in Anspruch nehmen können als es uns aus der rationalen Perspektive eines rein intellektuellen Zugangs selbst unter Zuhilfenahme der besten wissenschaftlichen Mittel der Weltbetrachtung jemals möglich wäre.

Wenn ich meine Großmutter weinen sehe, schaudert mir. Dasselbe gilt für meine Eltern. Ein Gedicht, ein Musikstück, ein Zitat genügen, um in ihnen eine Gefühlslawine loszutreten, die ich abstoßend finde. Wie können Menschen Gefühle aus ihrem System purzeln lassen wie nasse Wäsche aus der Wäschetrommel? Wo sind die Grenzen? Ich weiß von Grenzen. Ich habe darüber in Büchern gelesen. Russische Geschichten von verwegenen Soldaten und errötenden Hausmädchen. Französische Klassiker, wo Verlegenheit über Schamlosigkeit siegt. Wenn freche Kinder Grenzen überschreiten, werden sie bestraft, wieder und Wieder. Ich werde zurechtgewiesen, aber nie bestraft. Egal. Ich bin hart wie Stahl, wie der Metallstab, der meine Wirbelsäule in Position hält.

Alba Arikha wuchs trotz einiger für das junge Mädchen verständlicherweise als erhebliche Einschränkungen wahrgenommener medizinischer Hilfsmittel wie einer Gesundheitsbrille mit dicken Gläsern sowie einer Stützvorrichtung zur Korrektur ihrer Wirbelsäulenfehlstellung unter in vielerlei Hinsicht privilegierten Grundbedingungen in der künstlerischen Bohème von Paris auf, wo ihr in Rădăuţi (heute Rumänien) geborener, nach fünf stilbildenden Jahren in Palästina/Israel künstlerisch wie kommerziell zeitlebens erfolgreicher Vater dank eines Stipendiums für die renommierte École des Beaux-Arts bis zu seinem Tod als vielgeachteter Künstler lebte; zu seinen besten Freunden zählten Samuel Beckett und Henri Cartier-Bresson, und prominente Zeitgenossen wie Gary Cooper, Alain Delon und Serge Gainsbourg verkehrten regelmäßig in seinem Haushalt. Zu seinen berühmtesten Auftragsarbeiten zählen Porträts von der Queen Mother (im Auftrag von Königin Elizabeth II.), Catherine Deneuve (im Auftrag der Republik Frankreich) und Lord Alec Douglas Home of the Hirsel, dem ehemaligen britischen Premierminister (1963-64).

Avigdor Arikha: "Leinwand mit Selbstporträt"/Foto: Israel Museum

Prägender als ihre von frühester Kindheit an als vollkommen natürlich wahrgenommenen Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses war jedoch die familiäre Situation, die zwar eine überaus liebevolle, höchst innige Beziehung zu allen (über-)lebenden Verwandten beinhaltete – außer zur Tante, die nicht nur die Zeichnungen ihres begabten Bruders, sondern auch den wertvollen Schmuck ihrer Mutter heimlich verkauft hatte – aber eben auch stark vom unheilbaren Trauma des Vaters geprägt war, dem gegenüber seine beiden Töchter aus fürsorglicher Rücksichtnahme niemals zuzugeben wagten, dass sie fast jede Nacht von seinen nächtlichen Schreien, den Nazi-Flashbacks, wie sie und ihre Mutter es unter sich nannten, aufwachten. Der erfolgreiche Maler beginnt Alba zwar immer wieder von seinen Erlebnissen während der Schoah zu erzählen, bricht seine Schilderungen aber auch immer wieder unvermittelt ab und vertröstet seine Tochter auf später.

Liebe Anna,
wir haben uns nie kennengelernt, weil es dich nicht gibt. Du existierst nur in meiner Fantasie, bist mein exotisches Gegenstück. Ein projizierter Funke Normalität in meinem Leben.
Ich dachte, dass ich durch die Vorstellung von dir vielleicht ein wenig werden könnte wie du, dass ich mich dir ein wenig angleichen könnte.
Dass meine vermeintliche Vebindung zu dir mich möglicherweise interessanter macht in den Augen derer, die mich nicht interessant finden.
Aber das ist nicht geschehen.
Meine Familie wird nie normal sein. Ich werde nie du sein. Kein Märchen wird mich ändern.
Das Leben wird es tun.
Vielleicht gibt es jemanden wie dich, irgendwo auf der Welt. Ich hoffe es. Ich habe dich gemocht.
Auf Wiedersehen, du Fantasie-Cousine!

Alba Arikha/Foto: Rebecca Reid/eyevine

Mit Beginn der Pubertät beginnt Alba Arikha immer stärker nach einem Ausbruch aus den vermeintlich hemmenden familiären Verhätnissen zu streben, nach einem mutmaßlich unbelasteten, ganz normalen Leben wie es ihre teils ebenfalls prominenten Mitschüler vorzuleben scheinen. Und sie häuft selbstbewusst die ganz eigenen kleinen Geheimnisse einer heranwachsenden jungen Frau an: Lidschatten und Lippenstift, den Minirock in der Schultasche und heimliches Petting mit gleichaltrigen Schulfreunden. Im Alter von siebzehn bricht sie schließlich radikal mit der häuslichen Situation und verbringt ihr letztes Schuljahr auf eigenen Wunsch fern von ihrer Familie in den USA, der Heimat ihrer Mutter, der Lyrikerin Anne Atik. Ihr außergewöhnliches, hellwaches und erstaunlich lebensweises Buch ist der wunderbare, in höchstem Maße geglückte Versuch einer persönlichen Aussöhnung mit der nur scheinbar eng umrissenen Welt ihrer Kindheit – eine überaus wirksame Wiedergutmachung der Autorin an sich selbst und eine unwiderstehliche Liebeserklärung an ihren Vater sowie die wiederherzustellende, umfassende Wahrnehmungsfähigkeit der Kindheit.
„Wörterbuch einer verlorenen Welt“, aus dem Englischen von Friederike Meltendorf, erschienen im Berlin Verlag, 255 Seiten, € 19,99

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