Jerusalem

Jerusalem

Dienstag, 22. Juli 2014

„Der Zentaur im Garten“ von Moacyr Scliar

Schon während der ersten großen Auswanderungswelle osteuropäischer Juden nach Palästina gegen Ende des 19. Jahrhunderts besaß das sogenannte „Heilige Land“ in den von Europa bereits weitgehend unabhängigen Staaten Südamerikas eine mehr als ernstzunehmende und für viele pragmatische Juden geradezu bestechend-attraktive Konkurrenz als realistisches Sehnsuchtsziel für ein besseres, freieres und vor allem weitgehend selbstbestimmtes Leben fern der allgegenwärtigen, kaum antizipierbaren absoluten Bedrohung in ihren Herkunftsländern, insbesondere dem von „spontanen“ Pogromen geprägten zaristischen Russland.


Länder wie Brasilien oder Argentinien trugen dabei schon früh zur organischen Entwicklung eines ebenso ausgeprägten wie vitalen jüdischen Selbstbewußtseins bei, das dem von der landwirtschaftlichen Aufbauarbeit erster zionistischer Pioniere geprägte aggressive Selbstverständnis Israels in nahezu paralleler Entwicklung von Anfang an weitgehend entsprechen konnte: der noch in Russland geborene und in der berühmten jüdischen Enklave Moisés Ville aufgewachsene Schriftsteller und Journalist Alberto Gerchunoff (1883-1950) prägte mit seinem berühmten Erzählungsband von 1910 den Begriff von den stolzen „jüdischen Gauchos“, sein Landsmann Ricardo Feierstein (geboren 1942) beschwor in seinem Roman „Mestizo“ über ein halbes Jahrhundert später sogar die direkte identifikative Verschmelzung mit der neuen südamerikanischen Heimat in der Titelgestalt des Mischlings.

Wie ein geflügeltes Pferd, das zum Flug bereit ist, zum Flug zu den Bergen des ewigen Lächelns, zu Abrahams Schoß. Wie ein Pferd, das auf den Hufspitzen steht und bereit ist, über die Pampa zu galoppieren. Wie ein Zentaur im Garten, bereit zum Sprung über die Mauer, auf der Suche nach der Freiheit.

Die Tendenz, nicht länger das biblische Israel oder den historischen Landstrich Palästina als Gelobtes Land zu bezeichnen, sondern jedes beliebige andere aufnahmebereite Land mit günstiger, identitätsstiftender Perspektive, kennen wir bereits aus den aufgeklärten Staaten Westeuropas während der für das europäische Judentum ausgesprochen fruchtbaren und hoffnungsvollen Epoche der Vorkriegsordnung, die von den Nationalsozialisten schon bald auf so grausame Art und Weise scheinbar endgültig widerlegt wurde. Mit dem historisch eindeutig definierten Begriff „Tempel“ war im Sprachgebrauch des liberalen deutschen Judentums längst nicht mehr ein in Trümmern liegender messianischer Sehnsuchtsort in Jerusalem gemeint, sondern immer und grundsätzlich die konkrete heimische Synagoge.

Kein Galopp jetzt mehr. Jetzt ist alles gut. Jetzt sind wir wie alle anderen. Niemand wundert sich mehr über uns. Vorbei die Zeit, wo man uns als sonderbar bezeichnete – weil wir niemals an den Strand gingen, weil Tita meine Frau, immer Hosen trug. Sonderbar, wir? Nein. Vergangene Woche kam der Geisterbeschwörer Peri zu Tita, der allerdings ist sonderbar – ein kleiner, schlanker Indiomischling mit spärlichem Bartwuchs, behängt mit Ketten und Ringen, einen Stab in der Hand und dazu kaum zu verstehen. Man mag sich ja wundern, dass ein so seltsamer Mensch zu uns kommt; aber schließlich kann jeder an der Tür klingeln. Und außerdem – sonderbar gekleidet war er, nicht wir. Wir? Wir sehen ganz normal aus.

Moisés Ville, Argentinien

An die von Gerchunoff und Feierstein in ihren vielschichtigen Werken postulierte und auch persönlich vorgelebte Identifikation mit dem Kontinent Südamerika, insbesondere auch mit seiner überbordenden Natur, seinen indigenen und nationalen Traditionen sowie der unterschiedlichen, jedoch ganz besonders im Magischen Realismus Jorge Luis Borges' oder Gabriel Garcia Marquez' zu verortenden literarischen Fixpunkte, knüpfte auch der in seiner Heimat hoch geehrte und vielfach ausgezeichnete brasilianisch-jüdische Schriftsteller Moacyr Scliar (1937-2011) nahtlos an, dessen seit letztem Jahr endlich auch in deutscher Sprache wieder zugänglicher Roman „Der Zentaur im Garten“ (1980) vom amerikanischen National Yiddish Book Center unter die hundert wichtigsten und einflussreichsten Werke zeitgenössischer jüdischer Literatur gewählt wurde.

Der Zenaur ist eine Metapher für jene doppelte Identität, die für Juden in einem Land wie Brasilien charakteristisch ist. Zu Hause spricht man Jiddisch, isst Gefilte Fisch und hält den Sabbat. Aber draußen auf der Straße regieren Fußball, Samba und die portugiesische Sprache. Nach einer Weile fühlst du dich wie ein Zentaur.

Er erzählt darin auf unnachahmliche Art und Weise die höchst unterhaltsame und geistreiche, nahezu unglaubliche, aber auf metaphorischer Ebene umso wahrhaftigere Geschichte eines brasilianisch-jüdischen Mischwesens, eines leibhaftigen Zentauren. Der von seinen aus dem zaristischen Russland eingewanderten Eltern trotz seiner unmenschlichen Gestalt bedingungslos geliebte Guedali muss seine Kindheit vor fremden Blicken beschützt in den heimischen vier Wänden allein mit dem einsamen und unzureichenden Trost von Literatur und Musik verbringen. Als der begabte Junge schließlich zu ureigenem Bewußtsein heranwächst, bricht er endlich aus seinem bequemen Gefängnis aus in die sprichwörtliche große, weite Welt, mit all ihrer Schönheit, all ihrem Reichtum, aber auch ihren mannigfaltigen Täuschungen und Gefahren, um aus eigener Kraft sein erst durch eigene Erfahrung zu definierendes individuelles Lebensglück und eine passende Gefährtin zu finden.

In diesem Augenblick werde ich unsicher. Wem gehören diese nackten Füße, die ich mit meinen ebenfalls nackten Füßen unter dem Tisch liebkose?

Moacyr Scliar/Foto: J. Freitas

Moacyr Scliar hat in der Gestalt des Guedali einen unvergesslichen jüdischen Pinocchio geschaffen, der in seiner charakterlichen Entwicklung ähnliche Schauplätze und Stadien zu durchlaufen hat wie sein großes, hölzernes literarisches Vorbild, bis er auf gar nicht so wundersame Weise am Ende von seinen körperlichen Gebrechen geheilt wird. „Der Zentaur“ ist ein echtes Meisterwerk der internationalen jüdischen Literatur, das die Diaspora mit ebenso entschiedenem wie berechtigtem Selbstbewußtsein und unbändiger Lebenslust weniger als Fluch, sondern vielmehr als echte Errungenschaft und als kapitale zukunftsweisende Chance begreift, solange sie nicht mit einer Verleugnung jüdischer Identität einhergehen muss.

„Der Zentaur im Garten“, aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Steiner, erschienen bei Hoffmann und Campe, 287 Seiten, 19,99

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.