Jerusalem

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Montag, 30. Juni 2014

„Bagdad Marlboro“ von Najem Wali

Der irakische Schriftsteller Najem Wali gehört zu den wenigen international anerkannten Autoren aus dem traditionellen arabischen Kulturraum, die sich seit Jahren auch öffentlich vehement für einen friedlichen Ausgleich mit dem jüdischen Staat einsetzen. Damit besitzt er eine fundierte, unverkennbare und gewichtige Stimme, die man im Westen naturgemäß gern zitiert, auch wenn sie in ihrer eigenen Kultur vielleicht weniger stark gehört oder wahrgenommen werden kann. Der 1956 in Basra geborene und bereits seit 1980 in Deutschland lebende Wali ist vor einigen Jahren sogar persönlich nach Israel gereist, um sich ein Bild von den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Lande zu machen sowie das direkte Gespräch mit dem offiziell postulierten Feind zu suchen. Seine literarische Bestandsaufnahme dieser Reise (2009) ist im Ergebnis vielleicht sogar ein bisschen zu schmeichelhaft für den jüdischen Staat ausgefallen.


In seinem soeben erschienenen, neuen großen Roman erzählt Najem Wali nicht nur die allerjüngste bittere Geschichte seines Landes, sondern lässt vor allem die vergangenen kriegerischen dreißig Jahre Revue passieren, die seit seiner Flucht im Jahr 1980 vor seinem damals anstehenden Militärdienst im blutigen Krieg des Saddam-Regimes gegen den Iran vergangen sind. „In diesem Land musste ich wählen zwischen der Rolle des Mörders und der des Ermordeten“, lässt er seinen Protagonisten, den melancholischen Bauunternehmer und Möchtegern-Schriftsteller am Ende des Buches sagen, „Ich entdeckte, dass ich für die erstere Rolle nicht taugte. Ich machte mir klar, dass ich alles sein könnte, bloß kein Mörder, und dass ich, um der letzteren Rolle, der des Ermordeten, die man für mich vorgesehen hatte, zu entkommen, weggehen musste.“

Wenn ich meinen Reisepass betrachte und besonders meinen Namen und mein Geburtsdatum anschaue, kommt mir Daniel Brooks in den Sinn. Bis zu seinem plötzlichen Auftauchen hatte ich nie geglaubt, dass mein Leben sich je auf eine solch abrupte Weise verändern könnte, durch einen fremden Mann wie ihn, der von weit her kam. All das geschag vor sieben Jahren in Bagdad. Es waren die schwersten und möglicherweise auch die gefährlichsten Jahre, die die Stadt je erlebt hat. Ehrlich, wenn ich an die Geschichte zurückdenke, kommt sie mir schon recht seltsam vor. Dass sich so etwas in einer Stadt wie Bagdad abgespielt haben soll! Dass zwei Männer wie wir, mit ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen und durch Länder, Meere und Ozeane voneinander getrennt, sich unbedingt hier begegnen sollten!

„Bagdad Marlboro“, die versöhnlich umschließende Kombination von zwei für ihre beiden unterschiedlichen Herkunftsländer stehende Zigarettenmarken beschreibt die selbstquälerisch-tapferen Versuche eines ehemaligen amerikanischen Soldaten sowie eines desillusionierten irakischen Dichters, eine direkte und persönliche Aussöhnung mit dem erklärten Feind zu wagen, an dem beide während ihrer aktiven Militärzeit in massivem, kaum zu bewältigendem Ausmaß schuldig geworden sind. Der Dichter Salmân Mâdi, ein sorgsamer literarischer Chronist der Träume sämtlicher Soldaten seiner Einheit, hat während des ersten Golfkriegs auf Befehl seines Vorgesetzten gemeinsam mit seinen Kameraden das Feuer auf eine Gruppe bereits entwaffneter amerikanischer Kriegsgefangener eröffnet, der von Natur aus friedfertige Daniel Brooks, genannt Smiley Man, musste als Führer eines Bulldozers – angestachelt von seinem sadistischen Vorgesetzten, seinem unerbittlichen persönlichen Feind – ein ganzes Bataillon von wehrlosen irakischen Soldaten lebendig im Wüstensand begraben.

Jawohl, lieber Freund, das ist meine Rolle: Ihnen alle Geschichten zu erzählen, die noch niemand in den Archiven gefunden, die noch keine Zunge erzählt hat. Vergangene Geschichten und künftige: die Geschichte von Daniel Brooks und diejenige von Salmân Mâdi und David Barbiero; [...] die Geschichte des jungen Soldaten Nihâd, der davon träumte, in den Fußstapfen seines Onkels Nur Mulla Ibrahîm ein erstrangiger Goldschmied zu werden und nicht ahnte, dass seine Träume von einem amerikanischen Offizier im Range eines Obersts mit einem Messer massakriert würden; die Geschichte Ashârs und ihrer vierzehnköpfigen Familie, die alle an einem sonnigen Morgen kaltblütig im Schlaf auf dem Dach ihres Hauses in einem abgelegenen Dorf am Ufer des Euphrat umgebracht wurden, beschossen von amerikanischen Apache-Hubschraubern; [...] die Geschichte von Daniel Brooks, nachdem er Daniel Hussain geworden war, Daniel, der nach mir suchte und davon träumte, man werde ihm verzeiehen, der den Kindern jener lebendig begrabenen Soldaten helfen wollte, und nicht ahnte, dass er selbst an einer ganz anderen Front abgeschlachtet würde, weit weg von derjenigen, der er entkommen war, aber auch sie am Rande der Wüste; [...] Ja, die Geschichte jedes Toten und derjenigen, die noch warten. Auch Ihre Geschichte, Bradley Manning, mit dem Richter vor und den Kerkermeistern hinter Ihnen. Und vierzig Kilometer entfernt frohlocken die Mörder frei und entspannt. Ich bin sehr froh, endlich bei Ihnen zu sein, froh, Ihnen all diese Geschichten erzählt zu haben. Jetzt habe ich den Eindruck, dass wir wirklich frei sind, Sie und ich, beide jeder Last ledig.

US-Truppen in Bagdad, 2006

Najem Wali, der im Jahr 2013 zu den aufmerksamen Beobachtern des spektakulären Prozesses gegen den zwischen 2009 und 2010 im Irak stationierten Whistleblower Bradley Manning gehörte, der geheime Videos von Massakern des US-Militärs an der Zivilbevölkerung im Irak und Afghanistan an Wikileaks weitergegeben hatte, erzählt in seinem sprach- und bildmächtigen, epischen Roman die bisher ungeschriebene bittere Geschichte der intensiven, jedoch öffentlich schmerzhaft verdrängten Beziehung zwischen zwei Staaten und ihren unglücklichen Bürgern, die einander weder Freund noch Feind sein können. Doch „Bagdad Marlboro“ ist weit mehr als eine bloße Aufzählung der auf beiden Seiten begangenen Verbrechen sowie der zahlreichen verpassten Gelegenheiten, sondern vor allem ein eindringliches literarisches Plädoyer für die grenzüberschreitende Kraft bedingungsloser Mitmenschlichkeit und ein unmissverständlicher Aufruf, sich kollektivem Hass nicht zu beugen, sondern mutig aufeinander zuzugehen.

„Bagdad Marlboro“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, erschienen bei Hanser, 350 Seiten, € 21,90

(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)

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