Jerusalem

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Samstag, 25. Januar 2014

„Wände die Sprechen/Walls That Talk“ herausgegeben von Werner Jung


Ein Sachbuch als authentisches aufklärerisches Mahnmal und gegenständliches Echo vom realen historischen Schrecken, das man leibhaftig aufsuchen kann, um sich nachhaltig daran wundzustoßen: ist das herausgeberisch und buchkünstlerisch überhaupt möglich?

Wer hier nicht war, der
kommt noch, und wer hier war, der wird es nicht vergessen.

Der von Werner Jung, dem langjährigen wissenschaftlichen Direktor des renommierten NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, mit großem wissenschaftlichen Sachverstand und akribischer Sorgfalt zusammengestellte, soeben erschienene und kostbar ausgestattete, großformatige, hoch informative Bildband „Wände, die Sprechen/Walls That Talk“ muss schon allein körperlich aus jedem gewöhnlichen Buchregal herausragen und fordert so die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Betrachters für sein vorbildliches Anliegen ein, die Schrecken des durch eine Ironie der Geschichte bis heute nahezu unverändert erhalten gebliebenen ehemaligen Kölner Gestapogefängnisses im EL-DE-Haus am Appelhofplatz nicht nur intellektuell, sondern eben auch auf höchst unmittelbare Art und Weise sinnlich erfahrbar zu machen.



An den kargen Wänden der insgesamt zehn Zellen von jeweils nur 4,6 bis neun Quadratmetern Größe in der seit 1981 öffentlich zugänglichen, physisch wie psychisch gleichermaßen bedrückenden „Gedenkstätte Gestapogefängnis“ der Stadt Köln befinden sich etwa 1800 Inschriften, die von den zahlreichen unseligen, dort zwischen 1935 und 1945 unter menschenunwürdigen Zuständen zusammengepferchten Gefangenen hinterlassen wurden.

Sei gegrüßt, meine Frau, aus der Ferne schreibt Dein Mann. Weit hinter der Mauer, bei der Gestapo, quält er sich, wenn er zum Fenster schaut. Aber die Freiheit und das liebe Töchterchen sind weit von ihm entfernt. Vergeblich beschmiert er die Wände, indem er Briefe an seine liebe Frau verfasst. Ihm erscheint das Foto seiner Frau an der Wand, und das liebe Töchterchen auf dem Arm. Du wirst heranwachsen und groß werden und die Stütze Deiner Mutter in ihren alten Tagen sein. Mit fester Hand am Steuer des Wagens, der über die Weiten des geliebten Landes fliegt – vergiss nicht, erinnere Dich, schau auf das Foto Deines Vaters.

Kaum hoch genug zu lobendes Anliegen des vorliegenden Bildbands ist nicht nur die lückenlose fotografische Dokumentation, Übersetzung ins Deutsche und Englische sowie die inhaltlich korrekte textliche Wiedergabe jener 1400 Inschriften, deren Zustand mehr als einen fragmentarischen Sinn erkennen lässt, sondern auch eine authentische bildliche Wiedergabe der katastrophalen räumlichen Verhältnisse innerhalb der zehn Zellen, die von den Gestapo-Schergen zum Teil mit jeweils mehr als zwanzig Gefangenen meist bewusst überbelegt wurden: mittels zahlreicher ausklappbarer Doppelseiten sind die sieben seit Kriegsende unverändert erhalten gebliebenen Zellen in ihrer gesamten Länge und Breite komplett fotografisch erfasst.

Die deutschen Sitten
enthüllen sich
besonders in Zelle 6,
wo die es fertigbringen,
bis zu dreiunddreißig Menschen
auf einmal hineinzupferchen!

Während der einführende wissenschaftlich-dokumentarische Text sehr reduziert und sachlich-kühl bleibt, sich geradezu in die vermeintliche Sicherheit einer reinen Auflistung der wichtigsten Eckdaten zurückzuziehen scheint, muss der Fototeil jeden unvoreingenommenen Betrachter unwillkürlich und selbst ohne das vorausgesetzte historische Vorwissen mit aller Macht überwältigen: den klaustrophobischen Schrecken der oft ohne Angabe von Gründen von der Straße oder aus dem Bett weg verhafteten Opfer der nationalsozialistischen Willkürherschaft vermeint der Betrachter der dunkel-engen Gänge und Zellen geradezu körperlich am eigenen Leib zu spüren.

In der Gedenkstätte


Den eigentlichen Schatz des Buches jedoch stellen die lückenlos dokumentierten Inschriften innerhalb der einzelnen Zellen dar, zunächst noch nach fünfzehn übergeordneten inhaltlichen Themenkreisen geordnet wie „Haft- und Lebensbedingungen“, „Folter und Verhör“, „Hoffnung“, „Abschiedsworte“ oder „Hinrichtung“; im umfangreichen Anhang folgt dann eine zweite, auf abweichendes, schwereres Papier gedruckte und nicht weiter durch Fotomaterial belegte zweite Auflistung nach Herkunftssprachen.

Die Sonne hat sich hinter der Wolke versteckt,
will nicht am Himmel spazierengehen.
Ich scheiße euch in die Fresse.

So entsteht ein ebenso verstörendes wie beeindruckendes Panorama der zahlreichen unterschiedlichen Strategien individuellen Umgangs des Einzelnen mit dem ihm von den Handlangern eines beispiellosen Terrorregimes unrechtmäßig aufgebürdeten Leiden, viel unmittelbarer und authentischer und möglichwerweise packender als es oft sogar noch die besten dichterischen Umsetzungen erster Hand zu leisten vermögen, vor allem aber auch ohne die in den meisten dieser allerdings namhaften und nicht weniger beeindruckenden Werken bereits vollzogene psychische und intellektuelle Verarbeitung des Erlittenen.

Mein Gott, wie gern möchte ich frei sein,
meine Nächsten noch einmal sehen,
an der frischen Luft mich erholen, aber
ich kann die Kette nicht zerbrechen!
Brecht die Ketten auf! Lasst mich frei! Ich
werde (Euch) lehren, wie man die Freiheit
liebt!

„Wände, die sprechen/Walls That Talk“ ist eine wirklich herausragende buchkünstlerische Veröffentlichung mit hohem wissenschaftlichem Anspruch, die als gedanklich betretbares Abbild des real existierenden Schreckensortes, nicht nur der besonderen Form nach zu Recht heraussticht und im positiven Sinne zu überwältigen vermag, um ein mahnendes, aufklärerisches, wesentliches Zeitzeichen zu setzen, sondern auch mehreren Tausend Verschleppten und Ermordeten im Kölner Gestapogefängnis ihre eigene verzweifelte, mutlose, zornige oder hoffnungsvolle persönliche Stimme zurückgibt, die ihre Peiniger ihnen zu Lebzeiten aufs Grausamste verwehrt haben.

„Wände die sprechen/Walls That Talk“, erschienen bei Emons, 420 Seiten, € 68,-


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