Jerusalem

Jerusalem

Freitag, 8. November 2013

9. November 1938


I. Herschel Grynszpan

Am 7. November 1938 gab der junge Hannoveraner Jude Herschel Grynszpan (1921-1942) in den Räumen der deutschen Botschaft in Paris fünf gezielte Pistolenschüsse auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst vom Rath (1909-1938) ab, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag – nach neuesten Erkenntnissen möglicherweise aufgrund von der seinem Zustand nicht angemessener ärztlicher Behandlung durch zwei von Hitler persönlich abkommandierte deutsche Ärzte. Diesen Zwischenfall nahmen die Nationalsozialisten auf infame Art und Weise zum Anlass, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von zivil gekleideten Mitgliedern der SA und der SS landesweit brutale Aktionen gegen deutsche Juden zu inszenieren, die ein „spontanes Ausbrechen des Volkszorns“ im Sinne eines mittelalterlichen Pogroms suggerieren sollten und die Initialzündung zum Übergang von der rechtlichen Diskriminierung zur aktiven Verfolgung der deutschen Juden markierten. In dieser bitteren Nacht wurden von den Nationalsozialisten tausende Synagogen, Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe in Deutschland zerstört sowie ungefähr 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Die in den nächsten Tagen vollzogene verbrecherische Deportation von etwa 30.000 Juden in Konzentrationslager hatte ebenfalls Hunderte von Todesopfern zur Folge. Es ist von fundamentaler Bedeutung, immer wieder an dieses Datum zu erinnern. Herschel Grynszpan blieb in Frankreich ohne Prozess inhaftiert, wurde nach der Besetzung durch deutsche Truppen nach Deutschland überstellt und dort vermutlich spätestens Anfang 1943 ermordet.

Herschel Grynszpan nach seiner Festnahme



II. Abraham Sutzkever

Der im Januar 2010 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstorbene Abraham Sutzkever, jüdischer Partisan und Überlebender des Wilnaer Ghettos, neben Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg Mitherausgeber des Schwarzbuchs über den Genozid an den sowjetischen Juden und Zeuge bei den Nürnberger Prozessen, gehört mit seinem sprachlich ebenso kraftvollen wie gedanklich sensiblen Werk nicht nur zu den produktivsten und literarisch bedeutendsten Lyrikern jiddischer Sprache überhaupt, sondern war mit der von ihm in Tel Aviv von 1946 bis 1995 herausgegebenen Zeitschrift „Di goldene Kejt“ (Die goldene Kette) auch ohne Zweifel einer der größten lebenslangen Förderer der jiddischen Dichtung überhaupt.

Abraham Sutzkever


Eine anlässlich seines 95. Geburtstags im Juli 2009 erschienene Anthologie seines beeindruckenden poetischen Werks in deutscher Übersetzung, die eine überaus repräsentative, sachkundig zusammengestellte Auswahl seiner Gedichte bis 1992 umfasst, war erstaunlicherweise in dieser Form ursprünglich gar nicht geplant gewesen, sondern zunächst nur als weniger umfangreiche poetische Beigabe zu seinem zeitgleich im selben Schweizer Verlag erschienenen erschütternden Prosabericht über das Wilnaer Ghetto „Wilner Getto 1941-1944“ gedacht.

Ein barfüßiger Wanderer auf einem Fels
im Abendgold
schüttelt den Staub der Welt von sich.
Aus dem Wald
fliegt ein Vogel auf
und fängt das letzte Stückchen Sonne weg.

Eine Weide am Fluß ist da auch.

Ein Weg.
Ein Feld.
Eine wimmelnde Wiese.
Geheime Schritte
hungriger Wolken.
Wo sind die Hände, die Wunder machen?

Was bleibt zu tun in dieser Stunde,
o meine tausendfarbene Welt?
Es sei denn
im Bettelsack des Windes
die rote Schönheit einsammeln
und sie heimbringen zum Abendbrot.

Ein Elend wie ein Berg ist da auch.


Die von dem renommierten Übersetzer und Spezialisten für mittelhochdeutsche Dichtung Hubert Witt kongenial teils gereimt übertragenen, teils in freie Metrik übersetzten achtzig Gedichte und Poeme führen dem Leser auf vorbildliche, absolut beeindruckende Art und Weise sehr anschaulich vor Augen, wie aus einem ausgesprochen talentierten jungen Dichter unter der leidvollen Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung sowie des eigenhändigen bewaffneten Kampfes gegen die Besatzungstruppen ein wirklich großer Lyriker von internationalem Rang wurde.

Jüdische Widerstandskämpfer nach der Befreiung Wilnas durch die Rote Armee

Was an Sutzkevers Lyrik am meisten beeindruckt, ist seine vitale, trotz allem lebensbejahende Weltsicht, die in ihrem Streben nach poetischer Schönheit immer wieder herausragende, tief beeindruckende Metaphern für das geistige und physische Überleben im Angesicht des jegliche menschliche Maßstäbe sprengenden Mordens findet und damit letztlich auch Adornos unsinnige Ächtung der Poesie nach dem Holocaust ad absurdum führt.

Sing kein Trauerlied,
entehre die Trauer nicht.
Worte verraten.
Namen wandeln sich
ins Gegenteil.

Blick auf den Schnee,
beleuchte mit seiner Ruh
dein Erinnern.
Licht ist die Sprache deines Herzens.
Und du
bist neugeboren.

Streck deine Finger zum Schnee,
zu den kalten
Geweben.
Wecke in ihnen
das verborgene
Leben.


III. Maurice Bavaud

Der 9. November markiert auch den Jahrestag zweier gescheiterter Attentatsversuche auf das Leben Adolf Hitlers, die zwei mutige Einzeltäter während offizieller „Gedenkveranstaltungen“ der Nationalsozialisten anlässlich des Jahrestags von Hitlers gescheitertem Münchener Putschversuch vom 9. November 1923 durchzuführen geplant hatten. Während Georg Elsers (1903-1945) ausgeklügelte Zeitbombe im Münchener Bürgerbräukeller am 8. November 1939 Hitler nur um wenige Minuten verfehlte, kam der Schweizer Priesteranwärter Maurice Bavaud, dessen Schicksal einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland immer noch zu wenig bekannt ist, während eines offiziellen Gedenkmarsches am 9. November 1938 gar nicht erst zum Abschluss, sondern musste seine Pläne, den Diktator zu ermorden, bis auf weiteres verschieben.

Georg-Elser-Sondermarke aus dem Jahr 2003

Nachdem er dem selbsternannten „Führer“ anschließend wochenlang hinterhergereist war, wobei er all seine Ersparnisse verbrauchte, wurde er auf der Rückreise nach Paris ohne Fahrschein als Schwarzfahrer verhaftet und aufgrund verdächtiger bei ihm gefundener Dokumente sowie seiner ebenfalls mitgeführten Waffe der Gestapo übergeben, die ihm unter Folter ein umfassendes Geständnis entpresste. Da der umstrittene Schweizer Botschafter Hans Frölicher (1887-1961) es ablehnte, sich für den Gefangenen einzusetzen, dessen Pläne er öffentlich als „verabscheuungswürdig“ kritisierte, wurde Bavaud in einem unrechtmäßigen Geheimverfahren kurzerhand zum Tode verurteilt und am 14. Mai 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Seine Rehabilitation erfolgte erst Ende der 1950er Jahre.

Maurice Bavaud

Bemerkenswert sind die Attentatsversuche von Elser und Bavaud besonders deshalb, weil sie beide trotz ihres eher bescheidenen, kleinbrügerlichen Hintergrunds auf vollkommen eigenständige Art und Weise nach einer umfassenden persönlichen Analyse der politischen Umstände Ihrer Zeit unabhängig voneinander zu dem klaren, unumstößlichen Urteil gekommen waren, dass nur die Beseitigung Hitlers die schlimmen zu erwartenden Folgen seiner schändlichen Politik verhindern könne. Anders als die meisten ihrer gleichgesinnten Zeitgenossen richteten Elser und Bavaud aber auch ihr individuelles Handeln vollkommen auf das zu erreichende Ziel aus – und das verdient gerade in einem Land, in dem Widerstand in der der öffentlichen Wahrnehung weitgehend mit dem späten und zögerlichen militärischen Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 gleichgesetzt wird, weit mehr als unsere bloße Anerkennung.

„Gesänge vom Meer des Todes“, aus dem Jiddischen von Hubert Witt, erschienen bei Ammann, 191 Seiten, € 22,95

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.