Jerusalem

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Freitag, 6. September 2013

"Befreiung kommt nie von außen" - Das Syrien Rafik Schamis


In seinem erstmals im Jahr 1987 veröffentlichten Buch „Märchen aus Malula“ schildert der in nahezu allen Altersgruppen gleichermaßen beliebte syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami eine fiktive Belagerungssituation aus der wehrhaften zweitausendjährigen Geschichte seines überwiegend von Christen bewohnten Heimatdorfes, das in einem schroffen abgelegenen Bergtal nordöstlich von Damaskus auf 1500 m Höhe liegt und eine der letzten verbliebenen Sprachinseln des biblischen Aramäisch darstellt:

Über achthundert Männer zogen einen festen Ring um das Dorf. Sie konnten von Norden anrücken und die Felsen besetzen, doch die Malulianer kämpften mutig. Mehrere [Angreifer] fielen gleich am ersten Tag. Die Botschaft des Anführers verwirrte das Dorf: „Wir wollen euch nur befreien, doch wenn ihr nicht wollt, so müssen wir euch umbringen.“ Einige wollten aufgeben, doch ein junger Mann rief: „Eine Befreiung kommt nie von außen!“

Diese auf den ersten Blick eher satirisch anmutende Anekdote besitzt in ihrer reinen philosophischen Essenz ohne Zweifel geradezu talmudische Dimensionen; gleichzeitig drückt sie auf höchst scharfsinnige Art und Weise auch genau jene zahlreichen Widersprüche aus, die den unbefangenen Beobachter angesichts des seit mittlerweile zwei Jahren von allen Parteien gleichermaßen unbarmherzig geführten syrischen Bürgerkriegs und besonders vor dem nun offenbar kurz bevorstehenden „zeitlich begrenzten Militärschlag“ der USA am meisten bewegen.



Rafik Schami hat es mit seinen zahlreichen Büchern geschafft, dem Leser eine Art „ideales Damaskus“ in die Herzen einzupflanzen, indem er das Syrien seiner Kinder- und Jugendzeit zum literarischen Schauplatz unvergänglicher Werte des Humanismus macht. Unwillkürlich kommen einem die unvergesslichen Helden seiner Bücher in den Sinn, der begnadete Märchenerzähler Salim etwa oder der Überlebenskünstler Milad, und man fragt sich, wie sie – denen man es am meisten zutraut – wohl die Herausforderungen eines Lebens unter den Unwägbarkeiten eines brutalen Bürgerkriegs bestehen würden?


In Syrien sind derzeit über vier Millionen Menschen auf der Flucht, die Anzahl der bisherigen Todesopfer beträgt nach UN-Angaben mindestens 100.000, und mehr als zwei Millionen syrische Flüchtlinge stellen die unmittelbaren Nachbarländer vor kaum zu bewältigende Herausforderungen. Hat der Einzelne in diesem Konflikt überhaupt noch die Möglichkeit, individuelle eigenständige Entscheidungen zu treffen? Darf dieser blutige Bürgerkrieg überhaupt ohne Abstriche als Freiheitskampf einer unterdrückten Bevölkerungsmehrheit verstanden werden?

In Interviews bezieht Rafik Schami ungewohnt scharf Stellung gegenüber der Indifferenz des Westens, scheinheiligen „Prominenz-Journalisten“ wie Jürgen Todenhöfer oder Peter Scholl-Latour und der Machtlosigkeit der arabischen Welt. Seine konkreten politischen Hoffnungen bleiben dabei auf eher bescheidene, realistischerweise zu erreichende Ziele wie Linderung der Not der Flüchtlinge sowie eine nachhaltige Befriedung und allmähliche Demokratisierung des Landes beschränkt. Damit ist er ganz nahe bei seinen Protagonisten – auch den zukünftigen: „Eine Befreiung kommt nie von außen!“

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