Jerusalem

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Dienstag, 6. August 2013

„Vermisst“ von Dror Mishani

Es geschieht nur ausgesprochen selten, dass man am Schluss eines Romans unwillkürlich wieder mit aller Macht auf das bereits Gelesene zurückgeworfen wird und sich plötzlich anhand früherer Textstellen zu überprüfen gezwungen sieht, wie und mit welchen Mitteln uns der nun, nach letzter Wendung, auf einmal umso versierter scheinende Autor an dieses überraschende, aufrüttelnde Ende geführt hat.

Der junge israelische Verlagslektor und Hochschulprofessor Dror Mishani (geboren 1975) darf nicht nur in literaturtheoretischer Hinsicht als Autorität auf dem Gebiet des Kriminalromans gelten, da er sich im Verlauf seiner akademischen Karriere auf dieses im literarischen Kanon oftmals unterschätzte Genre spezialisiert hat. Mit seinem ersten, international gefeierten und jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegenden außergewöhnlichen psychologischen Kammerspiel „Vermisst“ beweist er mit Nachdruck, dass er auch als praktizierender Krimi-Autor imstande ist, auf Grundlage seiner wissenschaftlichen Theorien und im Rahmen einer ebenso spannenden wie intellektuell anregenden Handlung glaubwürdige Charaktere sowie überzeugende soziale Milieus zu entwickeln, die sein literarisches Debüt zu einem ganz besonderen Leseerlebnis machen.



Eine wesentliche, auch in seinem Roman behandelte Theorie beschäftigt sich mit dem beinahe hundertjährigen Fehlen einer ausgeprägten Krimi-Tradition innerhalb der modernen Hebräischen Literatur: tatsächlich ist in der quantitativ wie qualitativ ausgesprochen reichhaltigen israelischen Literaturlandschaft seit der Staatsgründung im Jahr 1948 der Anteil an Kriminalliteratur stets vergleichsweise gering geblieben: der große internationale Erfolg der literarisch ambitionierten Batya Gur (1947-2005) muss zunächst als singuläres Ereignis betrachtet werden.

Erst in den letzten Jahren drängen verstärkt junge talentierte Schriftsteller wie Dror Mishani, dessen Debüt lediglich den Auftakt einer ganzen Reihe um seinen sympathischen Ermittler Avraham Avraham bilden soll, oder der praktizierende Anwalt Liad Shoham („Tag der Vergeltung“) mit neuen originellen Kriminalromanen auf den Markt, die in viel stärkerem Maße aus einer an israelische Verhältnisse angepassten internationalen Tradition heraus schreiben können. Die ursprünglichen zionistischen Motive israelischer Literaten der ersten drei Generationen sowie die eher von kollektiver Gewalt wie Krieg und Terror als von zivilen Kapitalverbrechen erschütterte gesellschaftliche Realität Israels habe eine ausgeprägte Kriminalliteratur zuvor nicht hervorbringen können, so der Autor im Interview.

Warum gibt es hierzulande keine Kriminalromane? Warum werden in Israel keine Bücher geschrieben wie beispielsweise die von Agatha Christie?“
Ich kenne mich mit Büchern nicht besonders aus.“
Dann werde ich es ihnen sagen. Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften.“

Sein unvergesslicher grüblerisch-aufrichtiger Protagonist mit dem absurden Doppelnamen Avraham Avraham teilt die Vorliebe seines Schöpfers für literarische und detektivische Theorien: nicht nur erläutert er diese immer wieder ausführlich im Verlaufe seiner Ermittlungen – es gehört außerdem zu seinen ungewöhnlichen Hobbys, bekannten Detektiven aus Weltliteratur, Film und Fernsehen ihre jeweiligen Ermittlungsfehler nachzuweisen. Sein kriminalistisches Gespür ist dem schüchternen Enddreißiger bereits in die Wiege gelegt worden: um auf die cholerischen Anfälle seiner Mutter vorbereitet zu sein hatte er schon im Verlauf seiner frühesten Kindheit eine besondere Sensibilität für frühzeitige Anzeichen für deren bevorstehende Stimmungsschwankungen entwickelt.

Andererseits pflegte sein Vater – in einer Abwandlung des bekannten Ich-sehe-was-was du-nicht-siehst-Spiels – seinem Sohn auf gemeinsamen Ausflügen ausgesprochen hintergründige detektivisch anmutende Fragen zu stellen:

Ich glaube, ich sehe eine Frau im blauen Mantel.“ Und der kleine Avraham Avraham, drei oder vier Jahre alt, suchte mit dem Blick aufgeregt die Straße ab, bis er sie gefunden hatte und auf sie zeigte. Das Spiel wurde raffinierter, je älter er wurde. Sein Vater sagte etwa: „Ich denke, ich sehe einen Mann, der zu spät zu einer Verabredung kommt.“ Avraham Avraham sah sich um, bis, bis er einen unrasierten Mann ausmachte, der bei Rot die Straße überquerte, und zeigte auf diesen. Sein Vater, der ihn an der Hand hielt, bestätigte: „Exakt.“ Und der kleine Avraham war glücklich.

Trotz dieser beinahe lebenslangen, einerseits spielerisch-leichten und dennoch im höchsten Maße ernsthaften Vorbereitung auf seine Arbeit bei der Polizei und einem auch fast ausschließlich darauf ausgerichteten, an sozialen Kontakten armem Privatleben endet der erfolgreiche Abschluss seines ersten von Dror Mishani aufgezeichneten Falles für Avi Avraham mit einer Enttäuschung: denn unter seinem hartnäckigen, allzu spät korrigierten anfänglichen Irrtum während der mehrere Wochen andauernden polizeilichen Fahndung nach einem ebenso plötzlich wie spurlos verschwundenen, charakterlich unauffälligen siebzehnjährigen Jugendlichen aus gutbürgerlicher Familie zerbricht nicht nur die zarte platonische Beziehung zu seiner langjährigen Vorgesetzten Ilana, die ihn einst gegen massiven Widerstand in ihr Team geholt hatte; er erwägt schließlich sogar, den Polizeidienst ganz zu quittieren.

Erst in der überraschenden, reizvoll-kontrastierenden Beschreibung einer unverhofften, kaum antizipierten privaten Idylle, während Avrahams anschließendem unbefristeten Urlaub, in dem er höchst erfreulichen, kaum für möglich gehaltenen Besuch von der jungen Brüsseler Verkehrspolizistin Marianka erhält, die er kurz zuvor im Rahmen eines polizeilichen Austauschprogrammes in der belgischen Metropole kennengelernt hatte, nimmt der offiziell bereits abgeschlossene Fall doch noch eine ungeahnte letzte Wendung.

Schon während seines kurzen Aufenthalts in Brüssel hatten sich die beiden unwahrscheinlichen Liebenden intensiv über das unerklärliche Verschwinden des siebzehnjährigen Ofer ausgetauscht, jetzt aber bringen Mariankas entschieden-weibliche Überlegungen Avi auf eine vollkommen neue Spur und werfen uns als Leser mit phänomenaler Wucht zurück auf den Anfang des Buches und auf Avrahams alles entscheidenden Irrtum. Denn der gewissenhafte Polizist ist nicht der einzige Protagonist des Buches mit ausufernden literarischen Theorien:

In all den Jahren bei der Polizei war Avraham noch nie einem Menschen wie Avni begegnet, der alles daransetzte, ins Visier einer polizeilichen Ermittlung zu geraten. Offenbar hatte Avni das zwanghafte Bedürfnis, etwas zu gestehen, aber Avraham war es nicht gelungen herauszufinden, was. Vielleicht wusste auch Avni selbst es nicht.

In der Tat vermag Mishanis wunderbarer Kriminalroman einen nicht geringen Teil seiner phänomenalen Spannung sowie seines ebenso intensiven wie hintergründigen psychologischen Schreckens gerade aus der zweiten, antagonistisch angelegten Perspektive von Seev Avni zu beziehen, des ehemaligen Englisch-Nachilfelehrers des verschwundenen Schülers, einem vom der Beliebigkeit seines Alltags enttäuschten und von seiner ungewollten Vaterrolle überforderten Möchtegern-Schriftsteller, der seit Jahren verzweifelt auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für seinen noch zu schreibenden ersten Roman ist, und der wie Franz Kafka in seinem Brief an Oskar Pollack die Meinung vertritt, dass es die vorrangige Aufgabe der Literatur sei, den Leser zu verstören und aufzurütteln:

Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

In diesem umfassenden Sinne ist „Vermisst“ mit Sicherheit einer der direktesten, aufregendsten und intelligentesten Kriminalroman seit vielen Jahren. Besonders bemerkenswert dabei ist die höchst angenehme, jedoch genreuntypisch-überraschende Tatsache, dass es Dror Mishani in seinem fesselnden Debütroman fast ganz ohne jegliches Blutvergießen gelingt, eine so nachhaltig wirkende Spannung aufzubauen, dass man den unvergesslichen Charakteren sowie der eigentlichen Untat noch lange nachgrübelt und sich schon auf den angekündigten zweiten Avi-Avraham-Band freut, der mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im nächsten Jahr erscheinen wird.

Vermisst“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei Zsolnay, 351 Seiten, € 17,90


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