Jerusalem

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Dienstag, 18. Juni 2013

„Und doch ein ganzes Leben“ von Helga Weiss

Auch beinahe siebzig Jahre nach Kriegsende erscheint auf dem internationalen Buchmarkt immer noch Jahr für Jahr eine beträchtliche Anzahl von neuen, bisher unbekannten literarischen Berichten von unmittelbaren Zeugen des organisierten Massenmords an den europäischen Juden durch Nazi-Deutschland: zum Teil sind es Kinder und Enkel der direkten Opfer, die das Schweigen über deren Leiden brechen, in manchen Fällen werden versteckte Aufzeichnungen bei privaten Renovierungsarbeiten oder in noch nicht ausgewerteten Archiven gefunden, aber auch unmittelbar Betroffene entschließen sich mitunter noch am Ende ihres Lebens dazu, gleichsam aus erster Hand über den ihnen aufgezwungenen Weg Zeugnis abzulegen.

Wer allerdings angesichts der enormen Fülle an detaillierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Schoah allen Ernstes die Frage aufwirft, wozu wir noch weitere Zeitzeugenberichte brauchen, sollte sich noch einmal dringend die unbequeme, unleugbare Tatsache vor Augen führen, dass im Weltenbrand des Zweiten Weltkriegs die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer (39.000.000) die der militärischen nicht nur um fast zwei Drittel übersteigt, sondern vor allem dass allein die Anzahl der ermordeten Juden nach Zusammenführung sämtlicher heute zu Verfügung stehender Quellen 6.000.000 vermutlich sogar noch übertreffen dürfte.

Um diese verstandesmäßig kaum zu fassende Zahl dennoch wenigstens annähernd begreifen zu können, ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu unverzichtbar, sich mit den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu beschäftigen: es geht hier um nicht weniger als 6.000.000 sinnlos ausgelöschte Leben, viele davon fraglos unspektakulär, unauffällig, unambitioniert – ganz gewöhnliche Lebensentwürfe von ganz gewöhnlichen „Menschen-wie-du-und-ich“, deren einziges Ziel es war, in Liebe und Einklang mit sich und der Welt zu leben.

Das Unfassbare am fabrikmäßig organisierten Judenmord ist ja gerade die jedem humanistischen Grundgedanken vehement zuwiderlaufende Konsequenz, mit der die absurd-geisteskranke pseudophilosophische Herleitung der angeblichen jüdischen Minderwertigkeit aus dem Ungeist des mitteleuropäischen Nationalismus des Neunzehnten Jahrhunderts zunächst über die theoretische Infragestellung jüdischen Lebens bis zur unmittelbaren totalen physischen Vernichtung tatsächlich von den Nationalsozialisten und ihren zahlreichen Handlangern durchgezogen wurde.

Besonders aus der bitteren Erkenntnis der jeglicher Definition von Menschlichkeit entzogenen Perspektive der Nationalsozialisten als selbsternannte Richter über Tod und Leben, Falsch und Richtig, Gut und Böse, muss man umso deutlicher bekräftigen, dass jedes dieser mutwillig zerstörten 6.000.000 Leben es vor allem ohne jede Einschränkung verdient gehabt hätte weitergelebt zu werden, in aller möglichen Unvollkommenheit und Banalität, und demzufolge auch heute noch gehört zu werden. So dürfen wir jeden Zeitzeugenbericht getrost als physisch-sichtbaren Beitrag zur schönen, in Judentum und Christentum gleichermaßen verbreiteten Vorstellung vom Buch des Lebens betrachten, in das die Namen und Taten der Gerechten „bis in alle Ewigkeit“ eingeschrieben seien.



Der Name der tschechischen bildende Künstlerin Helga Weissová-Hosková, geb. 1929 in Prag, ist interessierten Lesern bereits durch eine nachhaltig beeindruckende Buchveröffentlichung aus dem Jahr 1998 bekannt, in der unter dem programmatischen Titel „Zeichne, was du siehst“, der Aufforderung ihres mit großer Wahrscheinlichkeit in Auschwitz ermordeten Vaters an die künstlerisch begabte und intellektuell aufgeweckte Tochter anlässlich der gemeinsamen Internierung im Konzentrationslager Theresienstadt im Dezember 1941, nahezu sämtliche ihrer dort entstandenen Kinderzeichnungen versammelt sind, auf denen die damalige Schülerin mit beeindruckend-wachem Blick für die Details des Lageralltags das alltägliche Grauen im von den Nazis bewusst beschönigend „Ghetto“ genannten Durchgangslager auf dem Weg in die Todeslager Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Majdanek wiedergibt. Ihr kindlich-naiver Zeichenstrich erschreckt und beeindruckt den Betrachter dabei umso mehr, da für ihn darin unmittelbar erfahrbar wird, dass dies alles, was doch kein Kind jemals auch nur mit eigenen Augen bezeugen sollte, Abertausenden von Kindern in der Schoah tatsächlich widerfahren ist.

Doch Helga Weissová-Hosková führte seit dem Beginn der deutschen Okkupation in Prag und später in Theresienstadt auch ein höchst aussagekräftiges persönliches Tagebuch, welches sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz ihrem aufgrund seiner exponierten Tätigkeit im Geschäftszimmer der sogenannten „Ghettoverwaltung“ relativ weitreichende Protektion genießenden Onkel übergab, der es gemeinsam mit ihren Zeichnungen und Skizzen in einem geheimen Versteck im Lager einmauerte und nach dem Krieg unversehrt wieder bergen konnte.

Ihre weitere Leidenszeit in Auschwitz-Birkenau, im Messerschmidt-Flugzeugwerk Freiberg/Sachsen sowie im zehntägigen unwahrscheinlichen Verlauf einer kafkaesk-absurden Odyssee mit dem Zug, kurz hinter der sich stetig vorwärtsschiebenden Frontlinie, und schließlich die letzten Kriegstage im berüchtigten Lager Mauthausen, wo nur wenige Tage vor Eintreffen ihres Transports die Vergasungen auf Druck des Roten Kreuzes endgültig eingestellt worden waren, schrieb sie als Vierzehnjährige nur wenige Wochen nach der Befreiung ebenfalls im Tagebuchstil auf.

Diese Aufzeichnungen sind nun erstmals gemeinsam mit einem Teil ihrer Zeichnungen in einem Buch zusammengeführt worden: „Und doch ein ganzes Leben – Ein Mädchen, das Auschwitz überlebt hat“. Darin ergibt sich umso mehr das Bild eines talentierten, geistig hellwachen, mutigen jungen Mädchens das sich seines so umfassend niemals ausgesprochenen väterlichen „Auftrags“ vollkommen bewusst zu sein scheint und das während aller Kränkungen, Demütigungen und im Verlaufe seines verzweifelten, ihr von den Nazis grausam aufgezwungenen Kampfs ums Überleben dennoch niemals den Kern ihrer Persönlichkeit preiszugeben bereit ist, immer an die Möglichkeit der Rettung glaubt und auf rührende Art und Weise selbst den Gedanken ans unwahrscheinliche Überleben des geliebten Vaters nicht aufgeben mag:

Wenn wir wenigstens im Zug [nach Auschwitz] die Pastete gegessen hätten; wir hatten sie für Papa aufgehoben, damit wir ihm gleich etwas geben können. Mein Gott, wie haben wir Dummköpfe uns das überhaupt vorgestellt? „Ihr fahrt zu euren [bereits deportierten] Männern in das neue Ghetto.“ Und wir haben ihnen das geglaubt. Manche Frauen haben sich sogar freiwillig gemeldet.

Im aufschlussreichen Interview im Anhang des Buches bekennt die Dreiundneunzigjährige:

Ich habe das nur für mich selbst geschrieben und hatte damit, glaube ich, eigentlich keine weiteren Absichten. Na ja, ob ich nun welche hatte oder nicht, weiß ich nicht genau. Ich habe ja auch gezeichnet. Auch diese Zeichnungen habe ich für mich gemacht, aber es kann sein, dass ich ein klein wenig daran dachte, dass ich alles für spätere Zeiten festhalten will, denn aus heutiger Sicht betrachtet, steckte schon eine gewisse Regelmäßigkeit dahinter. Vor allem aber schrieb ich für mich. Es kann allerdings sein, dass ich damals schon ein kleines bisschen diesen Gedanken verfolgte.

Ein wesentlicher Unterschied von Helgas Tagebuch zu den zahlreichen uns heute bekannten anderen kindlichen Schilderungen als aussagekräftige Zeugnisse des NS-Terrors besteht vor allem in der wunderbaren Tatsache des glücklichen Überlebens der jungen Autorin: denn das Grauen vieler anderer Kindertagebücher, die in der Regel schon deshalb mit dem Zeitpunkt der Deportation abbrechen, weil die SS in den Konzentrationslagern anders als im Ghetto keinerlei persönlichen Besitz mehr duldete, ergibt sich schließlich vor allem aus unserem detaillierten Wissen über das vielfältige Grauen, das den innerlich unnötig früh Gereiften noch bevorstehen sollte und das so zahlreiche hoffnungsvolle, vielversprechende Lebenswege, mit denen wir uns so vorbehaltlos identifizieren, mit kalter Berechnung einfach endgültig kappte.

In Helga Weissovás Tagebuch steigert sich das Grauen stetig, bis es allgegenwärtig ist und die Autorin nicht sicher sein kann, ob sie den jeweils beschriebenen Tag überleben wird: von ersten Einschränkungen aufgrund der von den Nationalsozialisten auch in der Tschechoslowakei umgehend implementierten menschenunwürdigen deutschen „Rassegesetzen“, über die ersten, lediglich Bekannte oder Verwandte betreffenden Deportationen nach Theresienstadt, den dortigen physischen und vor allem massiven psychischen Terror, bis hin zu ersten Gerüchten im Lager über den Einsatz von Gas und die Transporte nach Auschwitz, die Selektion, Zwangsarbeit, Hunger und die absolute physische Vernichtung.

Ja, das ist das letzte System. Wochen, womöglich Monate ohne Essen und Trinken haben sie hinter sich, diese – Menschen? Ja, das waren einstmals Menschen. Gesund, stark, mit eigenem Willen und eigenen Gedanken, mit Gefühlen, Neigungen und Liebe. Mit Liebe zum Leben, zum Guten und zur Schönheit, mit dem Glauben an eine bessere Zukunft. Übrig geblieben sind Schemen, Körper, Gerippe ohne Seelen.

Man mag darüber streiten, ob es legitim sei, einem organisch entstandenen Tagebuch über die Zeit im vergleichsweise „privilegierten“ Durchgangslager Theresienstadt eine im selben Stil geschriebene tagebuchartige Rekapitulation der späteren Ereignisse in den Todeslagern hintanzustellen. Daran jedoch, dass eine Weiterführung der begonnenen Geschichte in irgendeiner Form zwingend notwenig war, dürfte allerdings niemand auch nur den geringsten Zweifel hegen. Die von der Autorin bereits kurz nach der Befreiung gefundene Form führt ohnehin gerade im Zusammenspiel mit ihren präzise beobachteten Zeichnungen dazu, dass das vorliegende Buch aufgrund seiner schmerzhaften Authentizität und ausgesprochenen Detailfülle wie kaum ein anderes Dokument geradezu ideal dazu geeignet ist, um die darin beschriebenen Ereignisse intellektuell wie emotional gleichermaßen nachvollziehen zu können und diese somit in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.

Die Waggons sind da, der zweite Transport [nach Auschwitz] geht in die Schleuse. Mama macht schnell das Abendbrot, Papa soll sich noch einmal zum letzten Mal ordentlich satt essen. [...] Hier haben wir drei gesessen, jeden Abend, das letzte Dreivierteljahr. Das war für uns die beste Zeit in Theresienstadt, hier hatten wir unsere glücklichsten Stunden. Wenn gerade jetzt der Krieg zu Ende wäre... Das wäre zu schön. [...] Den Kopf an Papas Brust gepresst, höre ich deutlich seinen Herzschlag, wie von ferne, traurig, wie die Stimmung des heutigen Abends. Ach Papa, wären deine Arme doch so stark, dass mich niemals etwas aus ihrer Umarmung reißen könnte.

Wer die Bedeutung und den Wert des Lebens vollends begreifen will, sollte dieses Buch lesen.

„Und doch ein ganzes Leben“, aus dem Tschechischen von Elke Čermáková, erschienen bei Lübbe, 223 Seiten, € 18,-

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