Es
gibt keinen anderen Autor im deutschen Sprachraum, der uns als Leser
so wie Patrick Roth literarisch „an die Hand“ nimmt – nein,
intensiver noch: uns regelrecht packt und mitreisst – um uns die
seltene, unbeschreiblich-gegenwärtige, wunderbare Gelegenheit zu
geben, die Lektüre so mitzuerleben, als wären wir selbst dabei:
mitten im unmittelbaren Erleben.
Was
in diesem virtuos konstruierten Prozess für den Leser übrigbleibt,
in der faktischen Aufhebung der literarischen Fiktion, scheint ihm
nicht weniger als unmittelbare eigene Erfahrung, selbst das Wort
Erkenntnis scheint nicht zu hoch gegriffen, und steht in gewisser
Weise in direkter Tradition der von Platon in seinen Dialogen
entworfenen Sokratischen Methode, mit deren Hilfe Sokrates
seine Schüler – hier allerdings in Form von Fragen – zur
jeweils zu erreichenden Einsicht führt:
„Nicht glauben sollt ihr,
sondern erfahren.“
Patrick
Roth wurde 1953 in Freiburg geboren und wuchs in Karlsruhe auf, wo er
eine klassische humanistische Schulbildung genoss. 1975 wurde ihm vom
DAAD ein Stipendium für die University of Southern California
in Los Angeles gewährt, welches es dem filmbegeisterten Studenten
ermöglichte, seine privat begonnenen Studien nun in der
Welthauptstadt des Films endlich in professioneller Form
weiterbetreiben zu können und sich dort eine Existenz als
Schriftsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Filmkritiker aufzubauen.
Seine
literarische Karriere als deutschsprachiger Schriftsteller begann er
mit Hörspielen und Theaterstücken, die er seit Anfang der 1980er
Jahre in der sprachlichen Isolation Amerikas schrieb und anschließend
selbst in Deutschland inszenierte. Seinen literarischen Durchbruch
konnte Roth im Jahr 1991 mit seiner Christusnovelle
„Riverside“ verbuchen, dem ersten Band einer gleichnamigen
Trilogie, in der er auf begeisternde Art und Weise so scheinbar
unterschiedliche Themenkomplexe wie Motive der Bibel, die
Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs sowie die Welt des Unbewussten
miteinander vereint, innerhalb einer im besten Sinne die Erwartungen
des konventionellen Lesers geradezu „überwältigenden“ Handlung
und mit Hilfe von kongenial auf die Mittel der Literatur übertragenen
originär-filmkünstlerischen Erzähltechniken.
Rückblickend
muss die spektakuläre Riverside-Trilogie, die Sigrid Löffler zu der
Aussage bewog, Patrick Roth habe hierzulande nicht seinesgleichen,
jedoch als virtuose frühvollendete Fingerübung und künstlerische
Wegbereitung für sein im vergangenen Jahr erschienenes, völlig zu
Recht für den Deutschen Buchpreis 2012 nominiertes Opus magnum
„Sunrise – Das Buch Joseph“ gewürdigt werden, in dem er das
lebenslange Ringen eines Menschen, des Jesusvaters Joseph, um
persönliche Integrität und um die aktive Gestaltung seines
Schicksals beschreibt, an dessen Ende der Autor zu einem großartigen,
in der Literatur nahezu beispiellosen Bild der allumfassenden Einheit
des Menschen mit dem Leben findet, das den Leser intellektuell und
emotional gleichermaßen stark anzusprechen vermag und unsere
Wahrnehmung des metaphorisch Göttlichen nachhaltig zu
verändern vermag.
Patrick
Roths neues Buch „Die amerikanische Fahrt – Stories eines
Filmbesessenen“, dessen Verdienst neben der dankbaren thematischen
Zusammenführung einiger älterer höchst aufschlussreicher, bisher
aber lediglich verstreut erschienener Texte vor allem in der
vollständigen Wiedergabe seiner zweiten Heidelberger Poetikvorlesung
aus dem vergangenen Jahr besteht, erweist sich als äußerst
wertvolle, deutlich in der Gegenwart verankerte Parallellektüre zu
„Sunrise“, in der Roth nicht nur seine lebenslange Begeisterung
für den Film ausführlich und beispielhaft erläutert, sondern sie
auch als bedeutsame Wegetappe in den Gesamtzusammenhang einer ganz
konkreten persönlichen künstlerischen Entwicklung stellt.
Dabei
führt uns der Autor auf ebenso unterhaltsam-fesselnde wie
sachkundig-selbsterfahrene Art und Weise vom ahnungsvollen Außen
uns scheinbar nur
„unwillkürlich“ begeisternder Filmbilder als Spiegel noch
unbewusster innerer Bilder, über das Sehen der eigenen Innenwelt und
der Bewusstwerdung dieser Bilder, schließlich bis hin zu einer
möglichen Vereinigung durch aktive Integration der Welt des
Unbewussten mit Hilfe der Instrumente unseres Intellekts in unseren
Alltag und die dadurch zu schaffende Einheit:
Wenn
ich sie fassen kann, diese Inhalte, ordne ich sie – um sie nach
außen zu bringen, auch anderen zuzutragen –, indem ich mich auch
der Sprache des Films bediene, das vom Medium der äußeren Bilder
Erlernte also nutze, um dem dramatisch sinnträchtigen Gehalt der
inneren Bilder Audruck zu geben. Wenn das geschieht und es mir
gelingt, den zunächst unbewußten Inhalt, der mich bedrückt oder
mich begeistert, mich jedenfalls gefühlsmäßig nicht indifferent
läßt, in Bild oder Stimme zu fassen, dann hat das einen
vermählenden Effekt. Ein Unbewußtes ist ans Licht gekommen, ist
jetzt objektiv sichtbar. Ein Stück Bewußtsein ist hinzugewonnen.
Hier im Bild, im äußeren Bild oder der sich äußernden Stimme
gefaßt, ist etwas, das unsichtbar-innen war: jetzt offenbar.
Aber
diese rein rational-zusammenfassende Analyse von Roths Texten ist um
ein vielfaches zu kurz gegriffen, vermag ihren gedanklichen,
erzählerischen, poetischen und inhaltlichen Reichtum nicht annähernd
zu fassen: denn hier scheint der analytische Verstand bereits zur
Verdrängung wesentlicher Bilder und Inhalte beizutragen, die in der
Tat letztlich nur in der eigenen Lektüre selbst gesehen und erfahren
werden können:
Etwa
wie man in Sankt Petersburg zu frühstücken vermag ohne leibhaftig
dorthin zu reisen; merkürdige, scheinbar zufällig-beiläufige
Begegnungen mit Menschen, die sich überraschend und manchmal erst
nach Jahren plötzlich als höchst sinnfällig erweisen; wunderbar
nachskizzierte Momente der Filmgeschichte, die einen dazu bewegen,
sich sofort mit den entsprechenden DVDs einzudecken, um die
wunderbaren Beobachtungen des Autors nachzuvollziehen.
Aber
Roths in diesem Band versammelte Texte eignen sich nicht nur als eine
höchst verfeinerte Schule des von jedermann angestrebten poetischen
Sehens, sie sind vor allem auch ein glänzendes Plädoyer dafür,
immer danach zu streben das eigene Leben mit klaren Sinnen
wahrzunehmen, das äußere ebenso wie das innere. Dabei enthalten sie
in ihrem stets vorhandenen, dem Autor ausdrücklich wichtigen
erzählerischen Kern immer auch einen deutlich erkennbaren Thrill,
der sich aber vollkommen von der künstlich-erzeugten Spannung eines
herkömmlichen Spannungsromans unterscheidet, welcher ja lediglich
mit erzählerischen Mitteln eine als gleichzeitig empfundene
Weltflucht inszeniert, während uns Roth in seinen Stories nur umso
tiefer in die Welt hineinführt.
So
erweist sich der bescheidene Autor selbst in diesem unscheinbaren und
umso schwerer fassbaren, aber dennoch stets unmittelbar zugänglichen
Band über prägende Stationen seiner künstlerischen und
persönlichen Entwicklung als wirklich großer, bedeutender
Schriftsteller, vielleicht als einer der wichtigsten und
zukunftsweisendsten, die wir derzeit haben.
„Die amerikanische Fahrt“, erschienen bei Wallstein, 298 Seiten, €
19,90
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