Jerusalem

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Samstag, 8. Juni 2013

„Die amerikanische Fahrt“ von Patrick Roth

Es gibt keinen anderen Autor im deutschen Sprachraum, der uns als Leser so wie Patrick Roth literarisch „an die Hand“ nimmt – nein, intensiver noch: uns regelrecht packt und mitreisst – um uns die seltene, unbeschreiblich-gegenwärtige, wunderbare Gelegenheit zu geben, die Lektüre so mitzuerleben, als wären wir selbst dabei: mitten im unmittelbaren Erleben.

Was in diesem virtuos konstruierten Prozess für den Leser übrigbleibt, in der faktischen Aufhebung der literarischen Fiktion, scheint ihm nicht weniger als unmittelbare eigene Erfahrung, selbst das Wort Erkenntnis scheint nicht zu hoch gegriffen, und steht in gewisser Weise in direkter Tradition der von Platon in seinen Dialogen entworfenen Sokratischen Methode, mit deren Hilfe Sokrates seine Schüler – hier allerdings in Form von Fragen – zur jeweils zu erreichenden Einsicht führt:

Nicht glauben sollt ihr, sondern erfahren.“

Patrick Roth wurde 1953 in Freiburg geboren und wuchs in Karlsruhe auf, wo er eine klassische humanistische Schulbildung genoss. 1975 wurde ihm vom DAAD ein Stipendium für die University of Southern California in Los Angeles gewährt, welches es dem filmbegeisterten Studenten ermöglichte, seine privat begonnenen Studien nun in der Welthauptstadt des Films endlich in professioneller Form weiterbetreiben zu können und sich dort eine Existenz als Schriftsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Filmkritiker aufzubauen.

Seine literarische Karriere als deutschsprachiger Schriftsteller begann er mit Hörspielen und Theaterstücken, die er seit Anfang der 1980er Jahre in der sprachlichen Isolation Amerikas schrieb und anschließend selbst in Deutschland inszenierte. Seinen literarischen Durchbruch konnte Roth im Jahr 1991 mit seiner Christusnovelle „Riverside“ verbuchen, dem ersten Band einer gleichnamigen Trilogie, in der er auf begeisternde Art und Weise so scheinbar unterschiedliche Themenkomplexe wie Motive der Bibel, die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs sowie die Welt des Unbewussten miteinander vereint, innerhalb einer im besten Sinne die Erwartungen des konventionellen Lesers geradezu „überwältigenden“ Handlung und mit Hilfe von kongenial auf die Mittel der Literatur übertragenen originär-filmkünstlerischen Erzähltechniken.

Rückblickend muss die spektakuläre Riverside-Trilogie, die Sigrid Löffler zu der Aussage bewog, Patrick Roth habe hierzulande nicht seinesgleichen, jedoch als virtuose frühvollendete Fingerübung und künstlerische Wegbereitung für sein im vergangenen Jahr erschienenes, völlig zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2012 nominiertes Opus magnum „Sunrise – Das Buch Joseph“ gewürdigt werden, in dem er das lebenslange Ringen eines Menschen, des Jesusvaters Joseph, um persönliche Integrität und um die aktive Gestaltung seines Schicksals beschreibt, an dessen Ende der Autor zu einem großartigen, in der Literatur nahezu beispiellosen Bild der allumfassenden Einheit des Menschen mit dem Leben findet, das den Leser intellektuell und emotional gleichermaßen stark anzusprechen vermag und unsere Wahrnehmung des metaphorisch Göttlichen nachhaltig zu verändern vermag.



Patrick Roths neues Buch „Die amerikanische Fahrt – Stories eines Filmbesessenen“, dessen Verdienst neben der dankbaren thematischen Zusammenführung einiger älterer höchst aufschlussreicher, bisher aber lediglich verstreut erschienener Texte vor allem in der vollständigen Wiedergabe seiner zweiten Heidelberger Poetikvorlesung aus dem vergangenen Jahr besteht, erweist sich als äußerst wertvolle, deutlich in der Gegenwart verankerte Parallellektüre zu „Sunrise“, in der Roth nicht nur seine lebenslange Begeisterung für den Film ausführlich und beispielhaft erläutert, sondern sie auch als bedeutsame Wegetappe in den Gesamtzusammenhang einer ganz konkreten persönlichen künstlerischen Entwicklung stellt.

Dabei führt uns der Autor auf ebenso unterhaltsam-fesselnde wie sachkundig-selbsterfahrene Art und Weise vom ahnungsvollen Außen uns scheinbar nur „unwillkürlich“ begeisternder Filmbilder als Spiegel noch unbewusster innerer Bilder, über das Sehen der eigenen Innenwelt und der Bewusstwerdung dieser Bilder, schließlich bis hin zu einer möglichen Vereinigung durch aktive Integration der Welt des Unbewussten mit Hilfe der Instrumente unseres Intellekts in unseren Alltag und die dadurch zu schaffende Einheit:

Wenn ich sie fassen kann, diese Inhalte, ordne ich sie – um sie nach außen zu bringen, auch anderen zuzutragen –, indem ich mich auch der Sprache des Films bediene, das vom Medium der äußeren Bilder Erlernte also nutze, um dem dramatisch sinnträchtigen Gehalt der inneren Bilder Audruck zu geben. Wenn das geschieht und es mir gelingt, den zunächst unbewußten Inhalt, der mich bedrückt oder mich begeistert, mich jedenfalls gefühlsmäßig nicht indifferent läßt, in Bild oder Stimme zu fassen, dann hat das einen vermählenden Effekt. Ein Unbewußtes ist ans Licht gekommen, ist jetzt objektiv sichtbar. Ein Stück Bewußtsein ist hinzugewonnen. Hier im Bild, im äußeren Bild oder der sich äußernden Stimme gefaßt, ist etwas, das unsichtbar-innen war: jetzt offenbar.

Aber diese rein rational-zusammenfassende Analyse von Roths Texten ist um ein vielfaches zu kurz gegriffen, vermag ihren gedanklichen, erzählerischen, poetischen und inhaltlichen Reichtum nicht annähernd zu fassen: denn hier scheint der analytische Verstand bereits zur Verdrängung wesentlicher Bilder und Inhalte beizutragen, die in der Tat letztlich nur in der eigenen Lektüre selbst gesehen und erfahren werden können:

Etwa wie man in Sankt Petersburg zu frühstücken vermag ohne leibhaftig dorthin zu reisen; merkürdige, scheinbar zufällig-beiläufige Begegnungen mit Menschen, die sich überraschend und manchmal erst nach Jahren plötzlich als höchst sinnfällig erweisen; wunderbar nachskizzierte Momente der Filmgeschichte, die einen dazu bewegen, sich sofort mit den entsprechenden DVDs einzudecken, um die wunderbaren Beobachtungen des Autors nachzuvollziehen.

Aber Roths in diesem Band versammelte Texte eignen sich nicht nur als eine höchst verfeinerte Schule des von jedermann angestrebten poetischen Sehens, sie sind vor allem auch ein glänzendes Plädoyer dafür, immer danach zu streben das eigene Leben mit klaren Sinnen wahrzunehmen, das äußere ebenso wie das innere. Dabei enthalten sie in ihrem stets vorhandenen, dem Autor ausdrücklich wichtigen erzählerischen Kern immer auch einen deutlich erkennbaren Thrill, der sich aber vollkommen von der künstlich-erzeugten Spannung eines herkömmlichen Spannungsromans unterscheidet, welcher ja lediglich mit erzählerischen Mitteln eine als gleichzeitig empfundene Weltflucht inszeniert, während uns Roth in seinen Stories nur umso tiefer in die Welt hineinführt.

So erweist sich der bescheidene Autor selbst in diesem unscheinbaren und umso schwerer fassbaren, aber dennoch stets unmittelbar zugänglichen Band über prägende Stationen seiner künstlerischen und persönlichen Entwicklung als wirklich großer, bedeutender Schriftsteller, vielleicht als einer der wichtigsten und zukunftsweisendsten, die wir derzeit haben.

„Die amerikanische Fahrt“, erschienen bei Wallstein, 298 Seiten, € 19,90

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