Jerusalem

Jerusalem

Mittwoch, 12. Juni 2013

„Der Traumkicker“ von Hernán Rivera Letelier


Von führenden Sportartikelherstellern sowie den Hauptvermarktern großer internationaler Länderturniere wird der Fußball heute nicht zu Unrecht vor allem als völkerverbindendes Integrationsmittel mit höchstmöglichem Spaßfaktor dargestellt. Und in der Tat ist das dominierende Hauptmerkmal nahezu aller für den Zuschauer halbwegs attraktiver Mannschaftssportarten mit leicht verständlichem Regelwerk ohne jeden Zweifel die höchst angenehme Tatsache, dass jener – egal wie trist seine jeweiligen Lebensumständen auch sein mögen – für die jeweilige Dauer des Spiels vom Geschehen auf dem Platz gleichsam dazu gezwungen wird, seinen vergangenen und zukünftigen Problemen zu entfliehen und größtmöglichen Anteil am Jetzt des sportlichen Wettkampfes zu nehmen.

Dass der Fußball tatsächlich für viele Menschen mehr ist als eine beliebige Sportart, müssen wir allerdings auch im negativen Sinne immer wieder erfahren, wenn etwa Menschen nur deshalb zu körperlichem Schaden kommen, weil sie dem vermeintlich „falschen“ Verein anhängen oder durch Zufall zwischen rivalisierende Gruppen radikaler Fans geraten, die Fußball mit Krieg verwechseln und in professionellen Söldnertrupps besser aufgehoben wären als in der menschlichen Zivilisation.

Wenn man ihn jedoch nicht als völlig inadäquaten Ersatz für ein mit wachen Sinnen eigenverantwortlich gelebtes Leben betrachten muss, kann Fußball dennoch – zumindest vorübergehend – durchaus auch im kollektiven Sinne unverhoffte Hoffnungseruptionen bewirken und einzelne sowie ganze Gruppen zu außergewöhnlichen Leistungen motivieren, wie es der hierzulande noch nahezu unbekannte chilenische Schriftsteller Hernán Rivera Letelier in seinem wunderbaren, ebenso poetischen wie humorvollen Roman „Der Traumkicker“ über ein schicksalhaftes Fußballspiel in der chilenischen Atacama-Wüste auf unnachahmliche Art beschreibt, indem er mit viel Empathie alltägliche menschliche Sorgen und Nöte porträtiert, aber auch unsere Träume, Hoffnungen sowie unsere ureigene Fähigkeit zu unvoreingenommener Liebe und Freundschaft.



Hernán Rivera Letelier ist in einer jener elenden, zum Teil namenlosen und oft aus nicht mehr als fünf Straßen bestehenden Siedlungen aufgewachsen, die seit Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts um die zahlreichen Salpeterminen in der Atacama-Wüste im Norden Chiles herum entstanden sind und die er in seinem literarischen Schaffen nie aufgehört hat zärtlich zu umkreisen. Dass der Sohn eines Minenarbeiters einmal ein erfolgreicher Schriftsteller werden würde, war dabei kaum vorauszusehen, obwohl er – wie er in seinen Erinnerungen rekapituliert – stets der einzige Nutzer der lokalen Leihbücherei gewesen sei.

Zum Schreiben brachte ihn schließlich der Lyrikwettbewerb eines lokalen Radiosenders, bei dem er mit einem vierseitigen Liebesgedicht als erstem Preis ein Abendessen in einem feinen Restaurant gewann. So wesentlich wie die gute Erfahrung, dass ein Gedicht durchaus satt machen kann, sind auch die Motive in Rivera Leteliers Roman „Der Traumkicker“ aus dem Jahr 2006, der wie ein klassischer Western beginnt:

Es war ein Montag im Oktober, als sie zu Fuß mitten auf der ausgestorbenen Straße auftauchten. Zur Stunde der Siesta in der Wüste. Nicht ein verdammter Hauch in der Luft, und unter der brüllendheißen Sonne schmolzen die Lebensgeister von allem, was auf dem Antlitz der Erde atmete.

Allerdings trägt der unbekannte, verwegen aussehende Fremde, der aus gänzlich unwahrscheinlicher Himmelsrichtung kommend in der flimmernden Mittagshitze lässig die staubige Hauptstraße der Salpetersiedlung Coya Sur überquert, keinerlei todbringende Waffen bei sich, sondern stattdessen einen echten Profi-Fußball unter dem Arm: weiß und mit Waben!

Der Mann hatte ein Tropenhemd an, eine zu weite Hose und Schuhe aus Segeltuch, und den Ball hielt er genau wie ein Torhüter bei den Paraden zur Turniereröffnung. Obwohl er um die vierzig sein musste und, man wusste nicht auf welchem seiner O-Beine, leicht zu hinken schien, bewegte er sich mit dem Gehabe und der Coolness eines Profikickers. Außerdem trug er ein schmales Stirnband, was man hier draußen sonst nie sah.

Der fremde Traumkicker, dessen Aura im weiteren Verlauf der Handlung geradezu „messianische“ Ausmaße annimmt, kommt indes gerade zur rechten Zeit, denn bevor die in Lethargie versunkene desolate Bergarbeitersiedlung aufgrund erschöpfter Ressourcen vollends aufgegeben werden soll, steht noch ein allerletztes Fußballspiel gegen den Nachbarort an, den verhassten Erzrivalen, der dem Team von Coya Sur über Jahre hinweg eine schmachvolle Niederlage nach der anderen zugefügt hat. Die Wetten stehen denkbar schlecht, aber: „Der Ball ist rund, und das Spiel dauert neunzig Minuten“...

[...] lassen Sie es mich herausschreien, dass man es in der ganzen weiten Wüste hört, lassen Sie es mich aus tiefster Seele herausschreien, aus tiefstem Herzen, aus den Tiefen meines Gemächts, lassen Sie es mich schreien, bis mir die Stimme versagt, bis mir die Pisse rinnt, liebe Hörerinnen und Hörer an den Radios; ja, bis mir die Pisse in die Hose rinnt, bis meine Pisse nach Ahornsirup riecht, wie bei der Ahornsirupkrankheit, der Ahornsirupkrankheit: Die Ahornsirupkrankheit ist eine Stoffwechselstörung, hervorgerufen durch einen Mangel an den für den Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin zuständigen Enzyme und führt bei unzureichender Behandlung aufgrund der Anreicherung besagter drei Aminosäuren zu Enzephalopathie und progressiver Neurodegeneration und...!


Hier wird besonders deutlich, wie sehr der Autor den Fußball immer auch als wichtigen Bezugspunkt im sozialen Gefüge verortet: und hier ist sie absolut greifbar, die unverwüstliche Faszination des Fußballs, spürbar auch, warum er gerade im Ruhrgebiet bis heute ein viel tieferes, ehrlich empfundenes Identifikationspotential besitzt als in anderen Teilen Deutschlands. Hernán Rivera Letelier ist eine wunderbar leichtfüßige, humorvolle und unvergessliche Liebeserklärung an den Fußball, die untergegangene Welt seiner Jugend sowie die fantastische Macht der Träume gelungen.

„Der Traumkicker“, aus dem Spanischen von Svenja Becker, erschienen als Insel-Taschenbuch, 207 Seiten, € 7,99

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.