Von
führenden Sportartikelherstellern sowie den Hauptvermarktern großer
internationaler Länderturniere wird der Fußball heute nicht zu
Unrecht vor allem als völkerverbindendes Integrationsmittel mit
höchstmöglichem Spaßfaktor dargestellt. Und in der Tat ist das
dominierende Hauptmerkmal nahezu aller für den Zuschauer halbwegs
attraktiver Mannschaftssportarten mit leicht verständlichem
Regelwerk ohne jeden Zweifel die höchst angenehme Tatsache, dass
jener – egal wie trist seine jeweiligen Lebensumständen auch sein
mögen – für die jeweilige Dauer des Spiels vom Geschehen auf dem
Platz gleichsam dazu gezwungen wird, seinen vergangenen und
zukünftigen Problemen zu entfliehen und größtmöglichen Anteil am
Jetzt des sportlichen Wettkampfes zu nehmen.
Dass
der Fußball tatsächlich für viele Menschen mehr ist als eine
beliebige Sportart, müssen wir allerdings auch im negativen Sinne
immer wieder erfahren, wenn etwa Menschen nur deshalb zu körperlichem
Schaden kommen, weil sie dem vermeintlich „falschen“ Verein
anhängen oder durch Zufall zwischen rivalisierende Gruppen radikaler
Fans geraten, die Fußball mit Krieg verwechseln und in
professionellen Söldnertrupps besser aufgehoben wären als in der
menschlichen Zivilisation.
Wenn
man ihn jedoch nicht als völlig inadäquaten Ersatz für ein mit
wachen Sinnen eigenverantwortlich gelebtes Leben betrachten muss,
kann Fußball dennoch – zumindest vorübergehend – durchaus auch
im kollektiven Sinne unverhoffte Hoffnungseruptionen bewirken und
einzelne sowie ganze Gruppen zu außergewöhnlichen Leistungen
motivieren, wie es der hierzulande noch nahezu unbekannte chilenische
Schriftsteller Hernán Rivera Letelier in seinem wunderbaren, ebenso
poetischen wie humorvollen Roman „Der Traumkicker“ über ein
schicksalhaftes Fußballspiel in der chilenischen Atacama-Wüste auf
unnachahmliche Art beschreibt, indem er mit viel Empathie alltägliche
menschliche Sorgen und Nöte porträtiert, aber auch unsere Träume,
Hoffnungen sowie unsere ureigene Fähigkeit zu unvoreingenommener
Liebe und Freundschaft.
Hernán
Rivera Letelier ist in einer jener elenden, zum Teil namenlosen und
oft aus nicht mehr als fünf Straßen bestehenden Siedlungen
aufgewachsen, die seit Anfang des Neunzehnten Jahrhunderts um die
zahlreichen Salpeterminen in der Atacama-Wüste im Norden Chiles
herum entstanden sind und die er in seinem literarischen Schaffen nie
aufgehört hat zärtlich zu umkreisen. Dass der Sohn eines
Minenarbeiters einmal ein erfolgreicher Schriftsteller werden würde,
war dabei kaum vorauszusehen, obwohl er – wie er in seinen
Erinnerungen rekapituliert – stets der einzige Nutzer der lokalen
Leihbücherei gewesen sei.
Zum
Schreiben brachte ihn schließlich der Lyrikwettbewerb eines lokalen
Radiosenders, bei dem er mit einem vierseitigen Liebesgedicht als
erstem Preis ein Abendessen in einem feinen Restaurant gewann. So
wesentlich wie die gute Erfahrung, dass ein Gedicht durchaus satt
machen kann, sind auch die Motive in Rivera Leteliers Roman „Der
Traumkicker“ aus dem Jahr 2006, der wie ein klassischer Western
beginnt:
Es
war ein Montag im Oktober, als sie zu Fuß mitten auf der
ausgestorbenen Straße auftauchten. Zur Stunde der Siesta in der
Wüste. Nicht ein verdammter Hauch in der Luft, und unter der
brüllendheißen Sonne schmolzen die Lebensgeister von allem, was auf
dem Antlitz der Erde atmete.
Allerdings
trägt der unbekannte, verwegen aussehende Fremde, der aus gänzlich
unwahrscheinlicher Himmelsrichtung kommend in der flimmernden
Mittagshitze lässig die staubige Hauptstraße der Salpetersiedlung
Coya Sur überquert, keinerlei todbringende Waffen bei sich, sondern
stattdessen einen echten Profi-Fußball unter dem Arm: weiß und
mit Waben!
Der
Mann hatte ein Tropenhemd an, eine zu weite Hose und Schuhe aus
Segeltuch, und den Ball hielt er genau wie ein Torhüter bei den
Paraden zur Turniereröffnung. Obwohl er um die vierzig sein musste
und, man wusste nicht auf welchem seiner O-Beine, leicht zu hinken
schien, bewegte er sich mit dem Gehabe und der Coolness eines
Profikickers. Außerdem trug er ein schmales Stirnband, was man hier
draußen sonst nie sah.
Der
fremde Traumkicker, dessen Aura im weiteren Verlauf der Handlung
geradezu „messianische“ Ausmaße annimmt, kommt indes gerade zur
rechten Zeit, denn bevor die in Lethargie versunkene desolate
Bergarbeitersiedlung aufgrund erschöpfter Ressourcen vollends
aufgegeben werden soll, steht noch ein allerletztes Fußballspiel
gegen den Nachbarort an, den verhassten Erzrivalen, der dem Team von
Coya Sur über Jahre hinweg eine schmachvolle Niederlage nach der
anderen zugefügt hat. Die Wetten stehen denkbar schlecht, aber: „Der
Ball ist rund, und das Spiel dauert neunzig Minuten“...
[...]
lassen Sie es mich herausschreien, dass man es in der ganzen weiten
Wüste hört, lassen Sie es mich aus tiefster Seele herausschreien,
aus tiefstem Herzen, aus den Tiefen meines Gemächts, lassen Sie es
mich schreien, bis mir die Stimme versagt, bis mir die Pisse rinnt,
liebe Hörerinnen und Hörer an den Radios; ja, bis mir die Pisse in
die Hose rinnt, bis meine Pisse nach Ahornsirup riecht, wie bei der
Ahornsirupkrankheit, der Ahornsirupkrankheit: Die Ahornsirupkrankheit
ist eine Stoffwechselstörung, hervorgerufen durch einen Mangel an
den für den Abbau der verzweigtkettigen Aminosäuren Leucin,
Isoleucin und Valin zuständigen Enzyme und führt bei unzureichender
Behandlung aufgrund der Anreicherung besagter drei Aminosäuren zu
Enzephalopathie und progressiver Neurodegeneration und...!
Hier
wird besonders deutlich, wie sehr der Autor den Fußball immer auch
als wichtigen Bezugspunkt im sozialen Gefüge verortet: und hier ist
sie absolut greifbar, die unverwüstliche Faszination des Fußballs,
spürbar auch, warum er gerade im Ruhrgebiet bis heute ein viel
tieferes, ehrlich empfundenes Identifikationspotential besitzt als in
anderen Teilen Deutschlands. Hernán Rivera Letelier ist eine
wunderbar leichtfüßige, humorvolle und unvergessliche
Liebeserklärung an den Fußball, die untergegangene Welt seiner
Jugend sowie die fantastische Macht der Träume gelungen.
„Der Traumkicker“, aus dem
Spanischen von Svenja Becker, erschienen als Insel-Taschenbuch, 207
Seiten, € 7,99
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.