Jerusalem

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Montag, 22. April 2013

“Soutines letzte Fahrt” von Ralph Dutli


Am 9. August 1943 verstarb im Alter von fünfzig Jahren in Paris der seit der Besetzung Frankreichs durch hitlerdeutsche Truppen im Untergrund lebende jüdisch-russische Maler und bedeutende Vertreter des französischen Expressionismus Chaim Soutine nach einer kurzerhand von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche mit Hilfe der Résistance organisierten Notoperation, die infolge eines schweren Magendurchbruchs des bereits seit mehr als zwanzig Jahren an einem schmerzhaften Magengeschwür leidenden Künstlers als einzige lebensrettende Maßnahme noch Hoffnung auf Erfolg zu versprechen schien.

Um die trotz bürokratischer Auflagen und erheblicher medizinischer Einschränkungen durch die Besatzungsmacht dennoch eine bessere ärztliche Versorgung versprechende französische Hauptstadt zu erreichen, war der als untergetauchter Jude von der Polizei zur Fahndung ausgeschriebene Soutine gezwungen, die relative Sicherheit seines derzeitigen Verstecks in Chinon im heutigen Département Indre-et-Loire zu verlassen, um sich in einer vierundzwanzigstündigen Irrfahrt auf weitgehend unbeaufsichtigten Nebenstraßen und sediert von harten Schmerzmitteln ausgerechnet in einem Leichenwagen nach Paris transportieren zu lassen:

Nur hin in die Hauptstadt des Schmerzes, hatte nicht einer dieser verrückten Surrealisten sie so genannt, mit denen er nichts zu tun haben wollte? [...] Sie wollten nur den Traum und ihre trüben Spielchen. Er aber hasste Träume seit seiner Kindheit, nie gab es Trost in ihnen, sie ließen ihn am Morgen gekrümmt und zerschlagen zurück. Nie hatte er schöne Träume gehabt, er misstraute ihnen, den scheinheiligen Unglücksboten. Kosakenstiefel, die im Stechschritt durch sein Atelier hämmerten, glatte schwarze Lederhandschuhe, die zerfetzte Leinwände von der Staffelei rissen, laute Fanfaren, aus denen plötzlich geschossen wurde. [...] Die Surrealen liebten das Chaos, aber ein Pogrom hatten sie nie gesehen, die Namen Berditschew, Schitomir, Nikolajew sagten ihnen nichts, sie genossen die Verachtung der bourgeois, aber sie hatten nie in die Wälder fliehen müssen, um die eigene Haut zu retten.



Chaim Soutine, das zehnte von elf Kindern einer armen Jiddisch sprechenden jüdischen Familie, geboren und aufgewachsen im elenden 400-Seelen-Dorf Smilowitschi bei Minsk, war zweifelsohne eine jener urtümlichen, gleichsam “von Natur aus” zum Malen und Zeichnen begabten Künstlerpersönlichkeiten, dessen Fähigkeiten bereits in seiner Jugend nahezu voll ausgereift waren und der des klassischen Konservatoriums vielleicht lediglich zur Vervollkommnung seiner Technik oder zur Komplettierung seiner Persönlichkeit bedurfte. Schon als Vierzehnjähriger, so die Legende, bekritzelte der junge Maler nicht nur jeden einzelnen verfügbaren Fetzen Papier mit seinen spontanen Skizzen, sondern auch die Wände der heimischen Kellertreppe.

Zu seinem Leben und zu seiner Kunst jedoch hat sich Soutine, der “Maler des Schmerzes”, als den ihn der Schriftsteller, vollendete Lyriker und kongeniale Übersetzer und Herausgeber der gesammelten Werke Ossip Mandelstams, Ralph Dutli, in seinem großartigen, im März erschienenen Roman “Soutines letzte Fahrt” so überaus einfühlsam und kenntnisreich porträtiert, zu keinem Zeitpunkt seines wechselhaften Lebens gerne geäußert.

So darf es als ausgesprochener Glücksfall gelten, dass sich nun ausgerechnet ein hoch versierter Denk- und Sprachkünsler wie der 1954 geborene Schweizer Ralph Dutli im Rahmen einer ebenso begeisternden wie sprachmächtigen literarischen Recherche und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in diesen einzigartigen Künstler einzufühlen versucht und so tatsächlich, mit den umsichtig-platzierten Worten eines Dichters, das nachhaltig beeindruckende Kunststück vollbringt, dem Unausprechlichen in der unverwechselbaren Kunst Soutines eine ebenso eindringliche Sprache zu verleihen, die uns als Leser nicht nur empathischen Anteil an einem Künstlerschicksal des Zwanzigsten Jahrhunderts gewähren lässt, sondern auch einen Kern des tieferen Begreifens der Kunst an sich und dem individuellen künstlerischen Schaffensdrang  zu setzen vermag.

Es ist die Fixierung des einzigen Bildes, des alles entscheidenden Augenblicks. Die unermessliche Scham, die anwachsende Befremdung, auf der Welt zu sein. Die Verwaistheit aller Figuren, das Taumeln der Dinge in einer heillosen Welt. Lakonische Lyrismen. Der genau fixierte, farbig schillernde Tod am Werk. Und die unfehlbare Vitalität desselben Augenblicks.

Soutine hatte 1909 sein Heimatdorf verlassen, war zunächst nach Minsk gegangen, wo er Privatstunden nahm, ein Jahr später nach Wilna. Nach Abschluss seines Kunststudiums an der dortigen Akademie im Jahr 1913 setzte er buchstäblich alles auf eine Karte – die Fahrkarte nach Paris, der lang ersehnten, verheißungsvoll schillernden Welthauptstadt der Kunst, dem in seiner Imagination einzig möglichen Ort für einen Künstler wie ihn. Nach zehn Jahren des Elends und des Hungers kaufte der amerikanische Mäzen Albert C. Barnes 1923 schließlich eine ansehnliche Anzahl seiner Bilder und verschaffte Soutine so ganz unverhofft eine kaum noch für möglich gehaltene Popularität, die seine elementarsten Existenzsorgen bis zum Einmarsch der Deutschen beseitigen konnte.

Insbesondere der schmerzgesättigte, immer wieder gleich einem intimen Grundbedürfnis wiederkehrende wütende Schaffensrausch Soutines, aber auch der selbstzerstörerische Drang auf Vernichtung seiner eigenen Werke werden von Dutli auf absolut beeinruckende Art und Weise immer wieder kongenial eingefangen:

Es geht um Farbe oder Nicht-Farbe. Um das Weiß mit den blauen und roten Schlieren. Um Veronesegrün, Türkis, Scharlachrot und die Farbe des Blutes. Um den Tod der Farbe, die nicht sterben kann, die Auferstehung der Farbe. Um die zu üppig aufgetrafene, aufgewellte, geschraffte, borstige, gepeinigte, triumphierende Farbe. Die Farbe versöhnt nicht mit der Wirklichkeit [...] . Die unversöhnliche Farbe beugt sich keinem Gesetz, sie ist selber die Rebellion und die Auferstehung der Materie und des Fleisches. [...] Aber couleur und douleur kapiert er sofort, als seien es Signale nur für ihn. Farben und Schmerzen sind Schwestern, ja gewiss. Sie sind unheilbar, selbst wenn aus Farben schließlich Narben werden. Nein, die Farbe hatte beides zugleich zu verkörpern, den pochenden Schmerz und die bleibende Narbe. Und zuletzt das Sterben. Alles hinterlässt Narben, verstehen Sie, sichtbare Spuren. Alles. Den makellosen Körper mag es bei griechischen Statuen geben, im alten Ägypten oder bei Modigliani. Für Soutine gibt es keinen makellosen Körper, nur versehrte, knotige, geschundene Leiber. Nichts im Leben ist heil geblieben, nichts ist wiedergutzumachen. Das sind die einzigen Prinzipien, die er akzeptieren will. Er lässt die Farben sich aneinander reiben, schürfen, sich verehren, verdammen und verfluchen, erhöhen und niederstrecken, bis sie stammelnd ihr vernarbtes Glück hergeben.

Schmerz erscheint in Dutlis Roman lange als einziger wesentlicher Antrieb für Soutines Malerei. Was aber, wenn der körperliche Schmerz in Form des Magengeschwürs wider jede Wahrscheinlichkeit endgültig geheilt würde? Wird der “Maler des Schmerzes” auch ohne die vermeintliche wesentliche Triebfeder seines künstlerischen Schaffens bestehen können? Zumal wenn er – wie vom Arzt ermahnt – nur dann physisch überleben kann, wenn er sich des Malens in Zukunft gänzlich enthält? Dieser faustischen Frage geht Dutli in einer absolut bestechenden kafkaesken Vision vom “Weißen Paradies” nach, einem schmerzlos-eintönigen Klinik-Gefängnis, in dem keine Farbe mehr existiert und allen Insassen absolutes Schweigen verordnet ist.

Der Schmerz des Erlebten und Gesehenen jedoch birgt auch Momente nahezu grenzenloser Zärtlichkeit: so die Schilderung der von Soutine porträtierten Kinder, denen er im “Weißen Paradies” wiederbegegnet und die ihn dringend dazu ermahnen, das ärztliche Verbot zu übertreten. Oder die unvergessliche Szene vom vezweifelten Selbstmord Jeanne Hébuternes, der Verlobten seines Freundes und Förderers Amedeo Modigliani (1884-1920), die kaum inniger gestaltet sein könnte und Dutlis sprachliche und gestalterische Meisterschaft noch unterstreicht.

Ralph Dutli ist sich der Problematik möglicher Fallstricke einer halbfiktiven Romanbiografie dabei nur allzu bewusst und relativiert seine großartige imaginative biografische Arbeit gleich auf zweierlei Weise: zum einen ist die Erzählzeit seines großartigen Buches identisch mit der Dauer der endlos scheinenden Fahrt in die Pariser Klinik, in der die avisierte Notoperation stattfinden soll.

Während dieser Fahrt erinnert sich der in einem Schwebezustand zwischen schmerzgepeinigtem Halbschlaf und morphiumgetränktem visionären Wachsein gefangene Künstler auf eine gleichzeitig realitätsbezogen-konkrete, poetisch-traumwandlerische und zuweilen auch alptraumhafte Art und Weise an die zahlreichen Stationen seines Lebens, die alle möglichen Vorbehalte gegenüber vermeintlich unzulässiger literarischer Erfindung gleich von Vornherein wirksam zu entkräften vermag. Denn Ralph Dutlis subjektive poetische Recherche ist ohne Zweifel eine ganz außerordentliche, allein mit wissenschaftlichen Mitteln kaum zu erreichende Leistung der Durchdringung einer Künstlerpersönlichkeit und ihres gestalterischen Werkes, die an Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit kaum zu übertreffen ist.

Eine zweite Einschränkung im Konjunktiv liefert der Erzähler erst im letzten Kapitel des Buches, in dem er eine merkwürdige Begegnung mit einem greisen mutmaßlichen Gestapospitzel an Soutines Grab im Montparnasse schildert, der behauptet als einziger Zeuge neben Pablo Picasso, Jean Cocteau und Max Jacob sowie den letzten Lebensgefährtinnen Chaime Soutines, Gerda Groth und Marie-Berthe Aurenche, beim heimlichen Begräbnis des Malers anwesend gewesen zu sein:

Bilden Sie sich nichts ein. Halten Sie sich nicht für etwas Besseres als die fleißigen Agenten der Geheimpolizeien der Welt. Nur die sind der Wahrheit verpflichtet, nicht Sie. [...] Sie können sich nicht in einen Menschen hineinbegeben und in seinem Namen losplappern, das wäre das größte Verbechen. Und noch etwas: Er war ein großer Schweiger. Dichten Sie einem Schweiger nichts an. Er will es nicht. Wenn Sie von den Schnörkeln der Poesie nicht lassen können, suchen Sie sie anderswo. Sie werden Ihr Scheitern erkennen und werden das Buch noch einmal schreiben müssen.

Zu diesem Zeitpunkt hat Dutli allerdings schon längst auf beeindruckende Art und Weise bewiesen, dass in diesem ewig-ungleichen Ringen um Wahrheit am Ende immer der Dichter, immer der genuine Künstler gegen den kleingeistigen Beamten und reinen Verwalter von Informationen obsiegen muss, da er allein die geeigneten Mittel zur Weltdurchdringung besitzt. “Soutines letzte Fahrt” ist der faszinierendste und wahrhaftigste Roman über das Wesen der Malerei sowie die Macht und Ohnmacht der Farben seit langem.

“Soutines letzte Fahrt”, erschienen bei Wallstein, 272 Seiten, € 19,90

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