Jerusalem

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Samstag, 27. April 2013

“Verlorener Kontinent” von Natan Zach

Es sagt sehr viel aus über die ungewöhnlich ausgeprägte allgemeine Verbreitung zeitgenössischer hebräischer Lyrik in der israelischen Gesellschaft, dass Poesie dort im europäischen Vergleich nicht nur beim gewöhnlichen Lesepublikum gegen den Trend überdurchschnittlich populär geblieben ist, sondern die Verse zahlreicher international bedeutender Lyriker mittels unbefangen-einfühlsamer Vertonungen durch unterschiedlichste israelische Komponisten, Musiker und Bands auch wie selbstverständlich Teil der Rock- und Popmusik geworden sind und sich so innerhalb der gesamten Bevölkerung einer so großen Alltagsdurchdringung erfreuen dürfen, wie sie hierzulande allenfalls Herbert Grönemeyer, Rammstein oder Peter Maffay mit ihren Texten erreichen, während zeitgenössische Lyrik höchstens in süßlich-weichgespülten orchestralen Rilke-Vertonungen vorkommt.

Ironischerweise hebt eine solch “sangliche” Art der Vertonung allerdings die von der modernen Lyrik von jeher mit großem Engagement vorangetriebene Trennung von Sprache, Inhalt und Form wieder auf, um die als vollkommen eigenständige, von der Musik und der davon vorgegebenen Struktur getrennte Kunstform zu ihrer usprünglichen Einheit im Lied zurückzuführen.

Der 1930 in Berlin geborene Nathan Zach (eigentlich: Harry Seitelbach) gehörte neben seinem auch international viel gelesenen und in mehr als vierzig Sprachen übersetzten Zeitgenossen Jehuda Amichai (1924-2000) in den 1950er und 60er Jahren zu den wichtigsten und bedeutendsten Erneuerern der neuhebräischen Dichtung, die bis dahin vor allem durch einen mitunter groteske Ausmaße erreichenden, wesentlich vom russischen Symbolismus abgeleiteten Formwillen und der damit einhergehenden abgehoben-pathetisch-theatralischen Geste geprägt und damit eher dem Theater als dem Lied wesensverwandt war.

Zach und Amichai, gemeinsam mit den einflussreichen Literaturkritikern Gershon Sheked und Benjamin Harshav die treibenden Kräfte der Gruppe Likrat (“entgegen”), befreiten in ihrer Lyrik das Neuhebräische von Formzwang, Pathos und Erstarrung und schufen gerade in der nüchtern-rationalen Auseinandersetzung mit biblischen (Sprach-)Bildern besonders eindringliche, hoch poetische und treffende literarische Auseinandersetzungen des Einzelnen mit der prosaischen Realität des modernen Staates Israel in einer allgemein verständlichen und unmittelbar zugänglichen, von der Last des Religiösen befreiten Alltagssprache.



Während Amichai bis heute weltweit zu den am meisten gelesenen zeitgenössischen Dichtern gehört und international allgemein als bedeutendster israelischer Lyriker des Zwanzigsten Jahrhunderts gilt, dessen glänzend-unverwechselbares Werk auch im großen Umfang in seine deutsche Muttersprache übersetzt wurde, kennt der deutsche Leser Nathan Zach allenfalls augrund von wenigen in diversen Anthologien erschienenen Einzelgedichten oder aus Batya Gurs ungewöhnlichem, im Literaturseminar der Hebräischen Universität in Jerusalem angesiedelten Kriminalroman “Am Anfang war das Wort”, in dem dessen berühmtes Gedicht “Simsons Haar” im Rahmen der Handlung ausführlich analysiert wird.

So kann man den Suhrkamp-Verlag kaum genug dafür loben, dass nun endlich, in Nathan Zachs dreiundachtzigstem Lebensjahr eine erste deutschsprachige Anthologie im Rahmen des hauseigenen Imprints Jüdischer Verlag erscheinen konnte, die einen der bedeutendsten Dichter Israels (in der ungewöhnlichen Schreibweise Natan Zach) in seinem ganzen sprachlichen und handwerklichen Reichtum sowie seiner metaphorischen Originalität erstmals in seiner Muttersprache angemessen präsentiert und seinen Namen unwillkürlich auf eine Stufe mit Dichtern wie den Griechen Giorgos Seferis (1900-1971), Iakovos Kambanellis (1921-2011) oder eben Jehuda Amichai hebt.

Manchmal sehnt sich Gott
nach Hiob, seinem süßen Knecht. Der aber starb.
Von Gott entfernt ist Hiob nun,
so wie von andern Dingen, Engeln.
Was tut Gott?

Er liest – man glaubt es kaum –
das Buch der Psalmen. Auswendig kann er es noch nicht,
und die Dinge darin beruhigen sehr:
So viele Gedichte.
Ein großes, weites Meer,
und Tiere ohne Zahl, groß und klein,
und Bäume, viele Bäume, und immer wieder Wasser.

Keine Finsternis und kein Todesschatten”,
wiederholt er sich mit schwacher Stimme,
erinnert sich danach an etwas mit liebevollem Vorwurf:
Und da weint Gott,
für ihn ist kein Trost, sich trösten lassen will er nicht
um Hiob, seinen süßen Knecht, den süßesten aller Knechte,
dessen jedes Augenrund war wie ein Himmelreich.
Hiob seinem Knecht war keiner gleich
zu allen Zeiten, bis auf den heutigen Tag.

Nathan Zachs Dichtung ist nicht nur sprachlich tief verwurzelt im Alltag des Individuums, seine Themen sind so vielfältig und im allerbesten und auch schmerzlichsten Sinne “alltäglich” wie die zahlreichen widersprüchlichen Leidenschaften des Menschen, die intellektuellen ebenso wie die sinnlichen – es verwundert also kaum, dass der Leser sich darin nicht nur unwillkürlich überaus empathisch-treffend wiedererkannt und bestens aufgehoben fühlen darf, sondern auch dass Zachs Gedichte in seiner sprachlichen Heimat zu Recht auch im scheinbar banalen Einerlei der Popmusik präsent sind, um diese zu erden und zu verwandeln.

Die wesentlichen Themen der von Ehud Alexander Avner (geboren 1981) mit viel poetischem Einfühlungsvermögen und echtem, organischem Sprachgefühl übersetzte und vom Autor selbst getroffene Auswahl sind zum einen die Literatur, insbesondere das Gedicht, der Tod, die Liebe sowie die (Gott-)Verlassenheit des modernen Menschen.

Jedes Klingeln an der Tür, und darauf die Enttäuschung,
lässt mich dastehen wie einen leeren Jesus,
der spät nachts um Herberge bittet
und vor verschlossnen Türen stehen bleibt.

Und siehe da, ich öffne ihm, es ist doch Pflicht,
und hülle ihn in Leichentuch und mich in Weiß,
und nutze die Gelegenheit, seinen Mantel zu berühren,
welcher einmal mir entschlüpfte.

Und ich such im Zimmer, find auch eine Liegestatt für ihn,
eine, die möglichst wenig Schmerz bereitet,
und denk an einen Philosophen, der gesagt hat, Verzweifeltsein
sei des Menschen Prüfstein, das und das allein,
und richte eine kleine Ecke ein für die Verzweiflung, die meine,
und eine große für die Seine.

Ungeachtet einiger von der israelischen Öffentlichkeit mit verständlichem Entsetzen aufgenommenen verblendet-altersmüden rassistischen Aussagen über die vermeintliche kulturelle Unterlegenheit sephardischer Juden in einem skandalträchtigen Fernsehinterview im Jahr 2010, gehört Zach dennoch zu den wenigen “staatstragenden” Dichtern, die sich nicht nur jenseits der Literatur, sondern auch konkret in ihren Werken durchaus auch bewusst kontrovers zu den Dogmen des Zionismus sowie zur Besatzungspolitik geäußert haben:

Freitag, der Tag, da die Leviten
Halleluja sangen. Laut
einer nicht bestätigten Meldung
habe ein Mann versucht, sich dem Sperrzaun zu nähern.
Unbekannt, warum.
Es werde noch ermittelt.
Ein Vermerk ist gestern eingetragen worden
in die Personalakte eines Kommandanten.
Er habe ein kleines Mädchen irrtümlich getötet.
Ihre Tasche sei ihm verdächtig vorgekommen.
Auf unserer Seite keine Verluste.

In Nathan Zachs Versen findet der von der Realität wund geschliffene moderne Mensch genau das, wonach er sich in seiner unfassbaren schmerzlichen Vereinzelung vielleicht am allermeisten sehnt: einen aus tiefem poetischen Mitgefühl gespeisten, unverkennbaren, vitalen literarischen Trost, der in Sprache und Duktus immer wieder überraschend intensiv in die Bilderwelt der biblischen Psalmen eintaucht, aber dennoch voll und ganz der vielschichtigen, von zahlreichen Enttäuschungen geprägten Erfahrungswelt unserer Gegenwart verpflichtet ist und Intellekt und Gefühl auf kraftvoll-virtuose Art und Weise bravourös miteinander zu versöhnen vermag. Es ist eine gute Nachricht, dass die unverwechselbare, beharrliche Stimme Nathan Zachs endlich auch in deutscher Sprache vernommen werden kann.

“Verlorener Kontinent”, aus dem Hebräischen von Ehud Alexander Avner, erschienen im Jüdischen Verlag, 93 Seiten, € 19,95

Montag, 22. April 2013

“Soutines letzte Fahrt” von Ralph Dutli


Am 9. August 1943 verstarb im Alter von fünfzig Jahren in Paris der seit der Besetzung Frankreichs durch hitlerdeutsche Truppen im Untergrund lebende jüdisch-russische Maler und bedeutende Vertreter des französischen Expressionismus Chaim Soutine nach einer kurzerhand von seiner Lebensgefährtin Marie-Berthe Aurenche mit Hilfe der Résistance organisierten Notoperation, die infolge eines schweren Magendurchbruchs des bereits seit mehr als zwanzig Jahren an einem schmerzhaften Magengeschwür leidenden Künstlers als einzige lebensrettende Maßnahme noch Hoffnung auf Erfolg zu versprechen schien.

Um die trotz bürokratischer Auflagen und erheblicher medizinischer Einschränkungen durch die Besatzungsmacht dennoch eine bessere ärztliche Versorgung versprechende französische Hauptstadt zu erreichen, war der als untergetauchter Jude von der Polizei zur Fahndung ausgeschriebene Soutine gezwungen, die relative Sicherheit seines derzeitigen Verstecks in Chinon im heutigen Département Indre-et-Loire zu verlassen, um sich in einer vierundzwanzigstündigen Irrfahrt auf weitgehend unbeaufsichtigten Nebenstraßen und sediert von harten Schmerzmitteln ausgerechnet in einem Leichenwagen nach Paris transportieren zu lassen:

Nur hin in die Hauptstadt des Schmerzes, hatte nicht einer dieser verrückten Surrealisten sie so genannt, mit denen er nichts zu tun haben wollte? [...] Sie wollten nur den Traum und ihre trüben Spielchen. Er aber hasste Träume seit seiner Kindheit, nie gab es Trost in ihnen, sie ließen ihn am Morgen gekrümmt und zerschlagen zurück. Nie hatte er schöne Träume gehabt, er misstraute ihnen, den scheinheiligen Unglücksboten. Kosakenstiefel, die im Stechschritt durch sein Atelier hämmerten, glatte schwarze Lederhandschuhe, die zerfetzte Leinwände von der Staffelei rissen, laute Fanfaren, aus denen plötzlich geschossen wurde. [...] Die Surrealen liebten das Chaos, aber ein Pogrom hatten sie nie gesehen, die Namen Berditschew, Schitomir, Nikolajew sagten ihnen nichts, sie genossen die Verachtung der bourgeois, aber sie hatten nie in die Wälder fliehen müssen, um die eigene Haut zu retten.



Chaim Soutine, das zehnte von elf Kindern einer armen Jiddisch sprechenden jüdischen Familie, geboren und aufgewachsen im elenden 400-Seelen-Dorf Smilowitschi bei Minsk, war zweifelsohne eine jener urtümlichen, gleichsam “von Natur aus” zum Malen und Zeichnen begabten Künstlerpersönlichkeiten, dessen Fähigkeiten bereits in seiner Jugend nahezu voll ausgereift waren und der des klassischen Konservatoriums vielleicht lediglich zur Vervollkommnung seiner Technik oder zur Komplettierung seiner Persönlichkeit bedurfte. Schon als Vierzehnjähriger, so die Legende, bekritzelte der junge Maler nicht nur jeden einzelnen verfügbaren Fetzen Papier mit seinen spontanen Skizzen, sondern auch die Wände der heimischen Kellertreppe.

Zu seinem Leben und zu seiner Kunst jedoch hat sich Soutine, der “Maler des Schmerzes”, als den ihn der Schriftsteller, vollendete Lyriker und kongeniale Übersetzer und Herausgeber der gesammelten Werke Ossip Mandelstams, Ralph Dutli, in seinem großartigen, im März erschienenen Roman “Soutines letzte Fahrt” so überaus einfühlsam und kenntnisreich porträtiert, zu keinem Zeitpunkt seines wechselhaften Lebens gerne geäußert.

So darf es als ausgesprochener Glücksfall gelten, dass sich nun ausgerechnet ein hoch versierter Denk- und Sprachkünsler wie der 1954 geborene Schweizer Ralph Dutli im Rahmen einer ebenso begeisternden wie sprachmächtigen literarischen Recherche und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in diesen einzigartigen Künstler einzufühlen versucht und so tatsächlich, mit den umsichtig-platzierten Worten eines Dichters, das nachhaltig beeindruckende Kunststück vollbringt, dem Unausprechlichen in der unverwechselbaren Kunst Soutines eine ebenso eindringliche Sprache zu verleihen, die uns als Leser nicht nur empathischen Anteil an einem Künstlerschicksal des Zwanzigsten Jahrhunderts gewähren lässt, sondern auch einen Kern des tieferen Begreifens der Kunst an sich und dem individuellen künstlerischen Schaffensdrang  zu setzen vermag.

Es ist die Fixierung des einzigen Bildes, des alles entscheidenden Augenblicks. Die unermessliche Scham, die anwachsende Befremdung, auf der Welt zu sein. Die Verwaistheit aller Figuren, das Taumeln der Dinge in einer heillosen Welt. Lakonische Lyrismen. Der genau fixierte, farbig schillernde Tod am Werk. Und die unfehlbare Vitalität desselben Augenblicks.

Soutine hatte 1909 sein Heimatdorf verlassen, war zunächst nach Minsk gegangen, wo er Privatstunden nahm, ein Jahr später nach Wilna. Nach Abschluss seines Kunststudiums an der dortigen Akademie im Jahr 1913 setzte er buchstäblich alles auf eine Karte – die Fahrkarte nach Paris, der lang ersehnten, verheißungsvoll schillernden Welthauptstadt der Kunst, dem in seiner Imagination einzig möglichen Ort für einen Künstler wie ihn. Nach zehn Jahren des Elends und des Hungers kaufte der amerikanische Mäzen Albert C. Barnes 1923 schließlich eine ansehnliche Anzahl seiner Bilder und verschaffte Soutine so ganz unverhofft eine kaum noch für möglich gehaltene Popularität, die seine elementarsten Existenzsorgen bis zum Einmarsch der Deutschen beseitigen konnte.

Insbesondere der schmerzgesättigte, immer wieder gleich einem intimen Grundbedürfnis wiederkehrende wütende Schaffensrausch Soutines, aber auch der selbstzerstörerische Drang auf Vernichtung seiner eigenen Werke werden von Dutli auf absolut beeinruckende Art und Weise immer wieder kongenial eingefangen:

Es geht um Farbe oder Nicht-Farbe. Um das Weiß mit den blauen und roten Schlieren. Um Veronesegrün, Türkis, Scharlachrot und die Farbe des Blutes. Um den Tod der Farbe, die nicht sterben kann, die Auferstehung der Farbe. Um die zu üppig aufgetrafene, aufgewellte, geschraffte, borstige, gepeinigte, triumphierende Farbe. Die Farbe versöhnt nicht mit der Wirklichkeit [...] . Die unversöhnliche Farbe beugt sich keinem Gesetz, sie ist selber die Rebellion und die Auferstehung der Materie und des Fleisches. [...] Aber couleur und douleur kapiert er sofort, als seien es Signale nur für ihn. Farben und Schmerzen sind Schwestern, ja gewiss. Sie sind unheilbar, selbst wenn aus Farben schließlich Narben werden. Nein, die Farbe hatte beides zugleich zu verkörpern, den pochenden Schmerz und die bleibende Narbe. Und zuletzt das Sterben. Alles hinterlässt Narben, verstehen Sie, sichtbare Spuren. Alles. Den makellosen Körper mag es bei griechischen Statuen geben, im alten Ägypten oder bei Modigliani. Für Soutine gibt es keinen makellosen Körper, nur versehrte, knotige, geschundene Leiber. Nichts im Leben ist heil geblieben, nichts ist wiedergutzumachen. Das sind die einzigen Prinzipien, die er akzeptieren will. Er lässt die Farben sich aneinander reiben, schürfen, sich verehren, verdammen und verfluchen, erhöhen und niederstrecken, bis sie stammelnd ihr vernarbtes Glück hergeben.

Schmerz erscheint in Dutlis Roman lange als einziger wesentlicher Antrieb für Soutines Malerei. Was aber, wenn der körperliche Schmerz in Form des Magengeschwürs wider jede Wahrscheinlichkeit endgültig geheilt würde? Wird der “Maler des Schmerzes” auch ohne die vermeintliche wesentliche Triebfeder seines künstlerischen Schaffens bestehen können? Zumal wenn er – wie vom Arzt ermahnt – nur dann physisch überleben kann, wenn er sich des Malens in Zukunft gänzlich enthält? Dieser faustischen Frage geht Dutli in einer absolut bestechenden kafkaesken Vision vom “Weißen Paradies” nach, einem schmerzlos-eintönigen Klinik-Gefängnis, in dem keine Farbe mehr existiert und allen Insassen absolutes Schweigen verordnet ist.

Der Schmerz des Erlebten und Gesehenen jedoch birgt auch Momente nahezu grenzenloser Zärtlichkeit: so die Schilderung der von Soutine porträtierten Kinder, denen er im “Weißen Paradies” wiederbegegnet und die ihn dringend dazu ermahnen, das ärztliche Verbot zu übertreten. Oder die unvergessliche Szene vom vezweifelten Selbstmord Jeanne Hébuternes, der Verlobten seines Freundes und Förderers Amedeo Modigliani (1884-1920), die kaum inniger gestaltet sein könnte und Dutlis sprachliche und gestalterische Meisterschaft noch unterstreicht.

Ralph Dutli ist sich der Problematik möglicher Fallstricke einer halbfiktiven Romanbiografie dabei nur allzu bewusst und relativiert seine großartige imaginative biografische Arbeit gleich auf zweierlei Weise: zum einen ist die Erzählzeit seines großartigen Buches identisch mit der Dauer der endlos scheinenden Fahrt in die Pariser Klinik, in der die avisierte Notoperation stattfinden soll.

Während dieser Fahrt erinnert sich der in einem Schwebezustand zwischen schmerzgepeinigtem Halbschlaf und morphiumgetränktem visionären Wachsein gefangene Künstler auf eine gleichzeitig realitätsbezogen-konkrete, poetisch-traumwandlerische und zuweilen auch alptraumhafte Art und Weise an die zahlreichen Stationen seines Lebens, die alle möglichen Vorbehalte gegenüber vermeintlich unzulässiger literarischer Erfindung gleich von Vornherein wirksam zu entkräften vermag. Denn Ralph Dutlis subjektive poetische Recherche ist ohne Zweifel eine ganz außerordentliche, allein mit wissenschaftlichen Mitteln kaum zu erreichende Leistung der Durchdringung einer Künstlerpersönlichkeit und ihres gestalterischen Werkes, die an Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit kaum zu übertreffen ist.

Eine zweite Einschränkung im Konjunktiv liefert der Erzähler erst im letzten Kapitel des Buches, in dem er eine merkwürdige Begegnung mit einem greisen mutmaßlichen Gestapospitzel an Soutines Grab im Montparnasse schildert, der behauptet als einziger Zeuge neben Pablo Picasso, Jean Cocteau und Max Jacob sowie den letzten Lebensgefährtinnen Chaime Soutines, Gerda Groth und Marie-Berthe Aurenche, beim heimlichen Begräbnis des Malers anwesend gewesen zu sein:

Bilden Sie sich nichts ein. Halten Sie sich nicht für etwas Besseres als die fleißigen Agenten der Geheimpolizeien der Welt. Nur die sind der Wahrheit verpflichtet, nicht Sie. [...] Sie können sich nicht in einen Menschen hineinbegeben und in seinem Namen losplappern, das wäre das größte Verbechen. Und noch etwas: Er war ein großer Schweiger. Dichten Sie einem Schweiger nichts an. Er will es nicht. Wenn Sie von den Schnörkeln der Poesie nicht lassen können, suchen Sie sie anderswo. Sie werden Ihr Scheitern erkennen und werden das Buch noch einmal schreiben müssen.

Zu diesem Zeitpunkt hat Dutli allerdings schon längst auf beeindruckende Art und Weise bewiesen, dass in diesem ewig-ungleichen Ringen um Wahrheit am Ende immer der Dichter, immer der genuine Künstler gegen den kleingeistigen Beamten und reinen Verwalter von Informationen obsiegen muss, da er allein die geeigneten Mittel zur Weltdurchdringung besitzt. “Soutines letzte Fahrt” ist der faszinierendste und wahrhaftigste Roman über das Wesen der Malerei sowie die Macht und Ohnmacht der Farben seit langem.

“Soutines letzte Fahrt”, erschienen bei Wallstein, 272 Seiten, € 19,90

Montag, 15. April 2013

“Die Tage des Zweifels” von Andrea Camilleri

Andrea Camilleris federleicht-unterhaltsame Sizilien-Krimis, die sich nach nunmehr zwanzig Jahren und ebenso vielen Einzelbänden auch international noch immer einer ungebrochen großen Beliebtheit erfreuen, sind in vielerlei Hinsicht Bücher der ausgelebten Kontraste: sowohl das literarische Konzept des Autors als auch die einzelnen virtuos durchkomponierten Handlungsmomente sowie sein Wissen um die Motive und Wünsche seines Lesepublikums basieren auf dem Versuch, die zahlreichen Widersprüche und Konflikte des menschlichen Lebens entweder zu bewältigen oder auszuhalten.

Sein erzsympathischer Ermittler, Commissario Salvo Montalbano, eine schwelgerisch-lebenslustige Identifikationsfigur par exellence, hat sich im bürokratischen und korrupten Polizeiapparat seinen urtümlich-bodenständigen Sinn für Gerechtigkeit, selbstständiges Denken und unkonventionelles, eigenverantwortliches Handeln in einer Art und Weise bewahrt, die ihn nicht selten in Konflikt mit dem geschriebenen Gesetz und noch weniger selten mit seinen direkten Vorgesetzten geraten lassen.

Es gibt wohl kaum einen anderen bedeutenden Kriminalschriftsteller, der so radikal wie Camilleri die allgemein anerkannt-unvergänglichen sogenannten “guten Dinge des Lebens” in positiven Kontrast zu den von ihm in seinen Büchern beschriebenen Verbrechen setzt, deren Grausamkeit für den Leser oft ausgesprochen schwer auszuhalten ist. Die üppige Landschaft Siziliens jedoch, die kulinarischen Genüsse, die ihre berühmte rustikal-raffinierte Küche mit ihren zahlreichen außereuropäischen Einflüssen bereithält sowie die gegenseitige erotische Anziehung der beiden Geschlechter bewirken ein ums andere Mal, dass man sich von den bitteren Widersprüchlichkeiten des Lebens plötzlich zumindest für die Dauer der Lektüre wundersam geheilt fühlen darf.

Die nachhaltige Faszination der von Camilleri in seinen Romanen so nuanciert und plastisch beschriebenen sizilianischen Küche bewog seinen Verlag vor einigen Jahren sogar zur Veröffentlichung eines von den beliebten Fernsehköchen Martina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhofer liebevoll erarbeiteten Montalbano-Kochbuchs, das von der Gastronomischen Akademie Deutschlands seinerzeit mit einer Silbermedaille für außergewöhnliche kulinarische Buchveröffentlichungen ausgezeichnet wurde.



In seinem neuesten, auf gewohnt hohem Niveau verhandelten Fall “Die Tage des Zweifels” bekommt es der seit Jahren eine schmerzensreich-beglückende Fernbeziehung mit der in Genua lebenden streitlustigen Livia führende Commissario zum wiederholten Mal mit einer unerhofft-intensiven amourösen Versuchung in Form der jüngeren, in höchstem Maße anziehenden Laura, einer Offizierin der Hafenpolizei, zu tun, die ebenfalls verlobt ist und sich mit aller Macht gegen die auch ihrerseits unbeabsichtigten romantischen Gefühle für Salvo wehrt.

Der Konstellation einer jungen Frau und eines altenden Mannes, die beide gleichermaßen an der Wahrhaftigkeit ihrer Gefühle sowie an ihrem Recht zweifeln, diesen nachgeben zu dürfen, gewinnt Andrea Camilleri zahlreiche gelungene Szenen ab, die mal komisch, mal tragisch, jedoch immer wahrhaftig und bewundernswert treffend beobachtet sind und stets ein ungläubig-staunendes Wiedererkennen im Leser auszulösen vermögen.

Der 1925 in Porto Empedocle geborene, lebensweise vollendete Schriftsteller Andrea Camilleri ist eine Art Mozart des Kriminalromans. Seine augenzwinkernd-menschenfreundlichen Kriminalromane sind einerseits streng durchkomponiert und aufs Genaueste und Ausgewogenste in äußerst präzise Szenen gestaffelt wie ein guter Film. Seine Konstruktion ist jedoch nie aufdringlich und wirkt nie gewollt wie etwa im amerikanischen Thriller, dessen Auflösung gewöhnlich in einem billigen Knalleffekt mündet, der den Leser mit nichts zurücklässt außer einem unbestimmten Gefühl ägerlichen Überdrusses.

Es spricht also nicht nur für Selbstvertrauen und literarisches Geschick, wenn Camilleri soviel Wert auf feine, gut beobachtete und liebevoll-menschenfreundlich ausgearbeitete Szenen legt, die die ganze wunderbare Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen feiert und auch herrliche satirische Szenen zu gestalten vermag wie etwa jene, behutsam aufgebaute, mehrfach unterbrochene Szenenfolge, in der Montalbano dem unbelehrbar-ignoranten Staatsanwalt, dem nicht auszureden ist, dass er, Salvo, verheiratet sei und zwei Söhne habe, schließlich – allein um ihn in einer Situation verzweifelt-überreizter Geschäftigkeit loszuwerden – erzählt, sein jüngerer Sohn sei gerade verstorben und der betretene Staatsanwalt ihm am Ende sogar missverständlicherweise eins jener Trauergebinde ins Büro liefern lässt, die die Mafia gewöhnlich als letzte Warnung an erklärte Feinde zu schicken pflegt.

Der eigentliche Fall eines grausam verstümmelten, in einer Sturmnacht angeschwemmten Leichnams, der im Hafenbecken von Vigàta gefunden wird, dem fiktiven Handlungsort aller Montalbano-Krimis sowie zahlreicher anderer Romane Andrea Camilleris, tritt angesichts der Fülle ebenso treffender wie unterhaltsamer Alltagsbeobachtungen geradezu in den Hintergrund, obwohl er dem Buch ohne Zweifel das wesentliche strukturelle Gerüst liefert, auf dessen Grundlage der Autor seine große literarische Kunst entfalten kann.

Am Ende erweist sich erneut, dass in unserer globalisierten, vernetzten Welt die Provinz genauso Schauplatz der Weltpolitik sein kann wie die Weltpolitik Schauplatz des Provinziellen. Natürlich wird auch dieser Fall zur Gänze aufgeklärt; der dankbare Leser aber fühlt sich köstlich gestärkt und bestens unterhalten und gesättigt wie von einer reichhaltigen Mahlzeit oder wie von einer guten erfüllenden Liebe...

“Die Tage des Zweifels”, aus dem Italienischen von Rita Seuß und Walter Kögler, erschienen bei Lübbe, 251 Seiten, € 19,99

Freitag, 12. April 2013

“Leben auf dem Mars” von Tracy K. Smith


Nicht gänzlich unerwartet wurde die 1972 geborene amerikanische Lyrikerin Tracy K. Smith im vergangenen Jahr nach der an sich schon ehrenvoll-prestigeträchtigen Aufnahme in das Jahrbuch Best American Poetry 2012 für ihren von Publikum und Literaturkritik gleichermaßen gefeierten dritten Gedichtband “Leben auf dem Mars” anschließend verdientermaßen sogar mit dem renommierten Pulitzer Preis für Lyrik desselben Jahres ausgezeichnet.

Da die in New York lebende Dozentin für kreatives Schreiben an der Princeton University hierzulande bis zu diesem Zeitpunkt lediglich einem gut informierten Fachpublikum bekannt war, darf es als ausgesprochen großer, geradezu prophetischer Wurf gelten, dass sich der kleine unabhängige Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, ausgezeichnet mit dem Kurt-Wolff-Preis 2012, schon frühzeitig die Übersetzungsrechte für diesen großartigen, anspielungsreichen Band gesichert hatte, der auf geradezu alchemistische, aber stets spielerisch-leichte und ironische Art und Weise so unterschiedliche Disziplinen wie die Naturwissenschaften, Technik und die literarische und kinematografische sowie philosophische Science Fiction miteinander zu versöhnen scheint. “Leben auf dem Mars” ist – ungewöhnlich für ein Werk der modernen Poesie – noch im selben Jahr in deutscher Übersetzung erschienen.



Die in Kalifornien aufgewachsene Dichterin mit – laut Selbstporträt – “tiefen Wurzeln in Alabama” schafft es darin mit ihrer ebenso einfachen wie klaren, aber gleichzeitig ungeheuer assoziationsreichen Alltagsprache scheinbar mühelos, komplizierte Sachverhalte zugleich in mehreren parallel ablaufenden gedanklichen und lyrischen Dimensionen auszuloten und dabei trotzdem auch für den gewöhnlichen Leser immer ausgesprochen zugänglich zu bleiben.

Das poetisch imaginierte zukünftige “Leben auf dem Mars” ist dabei in der besten Tradition der literarischen Science Fiction natürlich lediglich ein philosophisches Vehikel zur Erkundung der menschlichen Lebensbedingungen im Allgemeinen sowie natürlich auch der besonderen Lebensbedingungen im Amerika der unmittelbaren Gegenwart. Dabei gelingt es Tracy K. Smith auf geradezu vorbildliche Art und Weise, selbst hoch persönliche Themen wie Liebe und Sex mit einer deutlich erkennbaren politischen Grundhaltung zu vereinen, ohne den Leser damit überwältigen zu wollen.

Leider gelingt es der Übersetzerin Astrid Kaminski nicht immer, der Autorin in allen für ihre Poesie charakteristischen Nuancen zu folgen. Ihre Nachdichtung bedient sich oft einer unangemessen künstlichen Sprache, die eine schmerzhafte Diskrepanz zur vielschichtigen, anspielungsreichen und doch im besten Sinne simplen Poesie der Dichterin aufscheinen lässt, die den Leser immer wieder unwillkürlich auf die ebenfalls in der deutschen Ausgabe enthaltenen Originaltexte zurückwirft.

Während die Übersetzerin in ihren nützlichen Anmerkungen zahlreiche tatsächliche oder auch vermeintliche Anspielungen aus der Popmusik auflistet, ersetzt sie in der deutschen Fassung eines der wichtigsten Texte des Bandes, im Gedicht “My God, It's Full Of Stars”, den Vornamen des dort genannten Schauspielers Charlton Heston durch “Charles” und lässt darüber hinaus alle von der Poetin beabsichtigten oder zufällig sich ergebenden Assoziationen zu Filmen wie “Die zehn Gebote” oder “Planet der Affen” einfach auf der Strecke.

Am besten funktioniert Astrid Kaminskis Übersetzung bei einem politischen Text wie dem sich auf die Rollen von Qumran beziehenden “They May Love All That He Has Chosen And Hate All That He Has Rejected”, dessen Grundton sich auch im Original eher distanziert-rational ausnimmt. Darin skizziert Tracy K. Smith sehr genau die sich gegenseitig überlagernden Mechanismen von negativistischem Fatalismus, politischem Chauvinismus und rassistischen Positionen im Amerika der Gegenwart:

Ich will ihre Stimmen nicht hören.
Will nicht hier stehen und Däumchen drehen, während sie
Herumzetern. Möchte einmal nicht wissen, was sie
Unter Wahrheit verstehen, oder welche Flaggen
An den Masten flattern, die sie auf ihre Dächer gepfropft haben.

Lass sie warten. Führ sie zur hinteren Veranda,
Wo sie sich anlehnen können, während die anderen essen.
Wenn sie Durst haben, gib ihnen einen Eimer und einen Zinnbecher.
Wenn sie krank werden, sag ihnen, dass kein Doktor vor Ort sei,
Und dass er Leute wie sie ohnehin nicht behandelte. Warn sie vor

Der Sorte Schwierigkeiten, in die man hier nach Einbruch
Der Dunkelheit geraten kann.

Und während sie im dritten Teil des Poems die Namen von Mördern und Amokläufern und deren unglücklichen, zum Teil willkürlich ausgewählten Opfern nennt, gibt sie im vierten Teil eben diesen Opfern auf ausgesprochen berührende und besonders wahrhaftige und lebenserhellende Art und Weise ganz unverkennbare eigene Stimmen, indem sie sie sehr persönliche Postkarten an ihre Mörder schreiben lässt, wie etwa diese der neunjährigen Brisenia Gonzalez, die im Jahr 2009 von Mitgliedern einer rassistischen Untergrundorganisation zusammen mit ihrem Vater erschossen wurde:

Liebe Shawna,

Alles okay bei Dir? Heute sind wir mit einem Boot zu einer Insel hinausgefahren. Es war kalt, obwohl die Sonne auf meinem Gesicht heiß war. Als wir aus dem Boot ausstiegen, gab es da eine Statue von einer heftig großen Dame. Mein Papa und ich fuhren den ganzen Weg rauf bis zu ihrem Kopf. Mein Papa sagt, wir wären nun frei und könnten alles machen, was wir wollen. Ich sagte ihm, dass ich gerne durch das Fenster springen und zurück nach Arizona fliegen würde. Ich hoffe, dass ich mal Tänzerin oder Tierärztin werde.

Alles Liebe,
Brisenia

Dieses Gedicht ist vielleicht sogar eines der besten, gelungensten und kunstvollsten Beispiele für die unendlichen Möglichkeiten moderner Lyrik, gerade auch wenn sie gleichzeitig politisch und unmittelbar zugänglich und persönlich sein will. Tracy K. Smith gehört spätestens mit diesem Band ohne jeden Zweifel zu den wichtigsten neuen Stimmen der zeitgenössischen Lyrik weltweit. Insofern ist es nur konsequent, wenn einen selbst die in jeder Hinsicht verdienstvolle Übersetzung letztlich wieder auf den großartigen Originaltext zurückwirft.

“Leben auf dem Mars”, aus dem Amerikanischen von Astrid Kaminski, erschienen bei Das Wunderhorn, 128 Seiten, € 17,90

Freitag, 5. April 2013

“Alles bestens” von Yael Hedaya

Die 1964 geborene israelische Schriftstellerin und Journalistin Yael Hedaya gehört ohne Zweifel nicht nur zu den profiliertesten israelischen Gegenwartsautorinnen, sondern leider auch – im Schatten der geradezu omnipräsenten, in zahlreiche Sprachen übersetzten Zeruya Shalev – zu den unterschätztesten. Dabei ist es der gebürtigen Jerusalemerin wie keiner anderen Autorin ihrer Generation in all ihren bisherigen Büchern auf geradezu traumwandlerische Art und Weise unter der scheinbaren Oberfläche der Unterhaltungsliteratur immer wieder bravourös gelungen, dem universellen Liebes- und Beziehungschaos der Dreißigjährigen eine absolut unverwechselbare, tiefgreifend-authentische und wahrhaftige Stimme zu verleihen, mit der sich jeder unbefangene Leser ganz unwillkürlich sofort zu identifizieren vermag.

Mit der scheinbaren, in Wirklichkeit aber aber in höchstem Maße doppelbödigen Leichtigkeit ihrer humorvoll-empathischen Texte, die auf den ersten Blick wirken müssen wie harmlose, vor allem gut konsumierbare herkömmliche Liebesromane, passt die Autorin nicht nur perfekt in die spezielle programmatische Ausrichtung des Schweizer Diogenes-Verlags, sondern konnte in diesem sicheren literarischen Heimathafen auch auf dem deutschen Buchmarkt vor allem mit ihrem Roman “Eden” sowie der Erzählung “Liebe pur”Überraschungserfolge verbuchen.

Da Yael Hedaya nicht gerade als produktive Vielschreiberin gelten kann – zumal sie zwischenzeitlich durch ihre Mitarbeit an der erfolgreichen israelischen Fernsehserie Be Tipul (2005-2008) gebunden war, die nicht nur inhaltlich und konzeptionell, sondern sogar in den Dialogen fast wortwörtlich für die USA als In Treatment (2007-2010) adaptiert wurde, behilft sich der Verlag zur Überbrückung der Wartezeit auf originär-neuen Lesestoff mit einem ausgesprochen cleveren Kunstgriff, indem er den bereits 1997 erschienenen Erzählungsband Shlosha sippurei ahawa (“Drei Liebesgeschichten”) ein ums andere Mal als ergiebige Goldader benutzt, dem bisher als Einzelveröffentlichungen schon das gefeierte deutschsprachige Debüt “Liebe pur” (1997) sowie die Erzählung “Die Sache mit dem Glück” (2006) entnommen worden waren.



Als letzte fehlende Geschichte aus dieser meisterhaften Sammlung ist nun die scheinbar simpelste und kürzeste Erzählung mit dem Titel “Alles bestens” in der im vergangenen Jahr neu eingeführten großformatigen – und großgedruckten – schönen Reihe Diogenes Paperback erschienen, um die Wartezeit auf die Übersetzung des vor zwei Jahren im hebräischen Original erschienenen neuen Romans Revi'i ba Erev (“Mittwoch abend”); und auch hier erweist sich Yael Hedaya wieder als Spezialistin für die sprichwörtlichen Irrungen und Wirrungen des menschlichen Herzens.

Alle darin von der Autorin auf gewohnt souveräne und liebevolle Art und Weise porträtierten Protagonisten haben ihre ganz persönlichen Probleme mit der Liebe – wenn es auch zum Teil an der Qualität und der Dauer ihrer jeweiligen Beziehungen hapert: denn Liebe, sexuelles Begehren und Leidenschaft sind in allen präsentierten Lebensentwürfen ganz ohne jeden Zweifel vorhanden – teilweise sogar im Übermaß.

Während die dreißigjährige Erzählerin Maja verzweifelt auf der Suche nach einer dauerhaften Beziehung ist, gibt ausgerechnet ihre in Gefühlsdingen stets unstete beste Freundin Nogga ihre baldige Hochzeit mit ihrem neuen Freund Amir bekannt, indessen Majas Eltern sich nach über dreißigjähriger liebevoller Ehe überraschend zur Scheidung entschlossen haben.

Auf einer Purimparty lernt Maja den unkonventionellen, etwas linkischen Nathan kennen, mit dem sie von Anfang “ein gutes Gefühl” hat:

Purim hin oder her, ich hatte mich nicht verkleidet, weil mir nichts einfiel, was ich an dem Abend wirklich hätte sein wollen – außer glücklicher. Ich war dreißig und wollte verliebt sein, ich wollte Selbstvertrauen besitzen und innere Ruhe. Für mich bestand die perfekte Kostümierung für eine Frau, die all diese Dinge in sich vereinigte, darin, so zu gehen, wie sie war. In gewisser Weise hatte ich mich also durchaus verkleidet.

Schon nach wenigen Tagen ergibt sich ein wunderbares, nachhaltig-beglückendes Arrangement zwischen den beiden gleichermaßen voneinander Angezogenen: Maja verbringt von nun an jede Nacht in Nathans stilvoll-unaufgeräumter Studentenbude im Dachgeschoss eines heruntergekommenen Mietshauses, nur die Wochenenden will der wortkarge, romantisch veranlagte Gärtner allein verbringen. Für Maja zunächst kein Problem:

Ich stand neben dem Pfleger im Aufzug, schnupperte an meinen Fingern und dachte, dass Sex einen gelassener machte, mehr eins mit sich und stärker, bis es mir gar schien, mit Hilfe von Sex ließe sich alles besiegen: der Tod, Herzinfarkte und all die anderen Tragödien, die sich auf jeder einzelnen Etage, in jedem einzelnen Zimmer, in jedem einzelnen Augenblick abspielten – als wäre Sex ein großes Kruzifix, wie es Nonnen und Pfarrer schwingen, um den Satan zu bannen.

Als sie dann doch, “nach fünf Monaten relativen Glücks”, eines Freitagabends unangekündigt vor Nathans Tür steht, muss sie allerdings feststellen, dass ihr Liebhaber bereits seit fünf Jahren eine Wochenendbeziehung mit der jüngeren Talli aus einem Kibbuz im Norden unterhält. Da sich Nathan Maja jedoch weder auf überzeugende Art und Weise erklären kann noch Anstalten macht, sich freiwillig für eine der beiden Frauen zu entscheiden, geht zunächst alles weiter wie zuvor:

Wir vögelten, als wäre nichts gewesen. Beim Sex stellte ich mir Nathan mit Sigall im Bett vor. Es beruhigte mich zu wissen, dass sie es am Wochenende wegen Sigalls Lebensmittelvergiftung nicht miteinander getrieben hatten.

Wie aber soll man die Zeit zurückdrehen, wie den unbeschwert-glückselig-zeitlosen Zustand des Unwissens wieder herstellen? Wie die quälenden Gedanken abstellen, sich die Selbstachtung bewahren, ohne gleichzeitig das zu opfern, was einen glücklich macht? Es erweist sich schließlich für alle Protagonisten, dass Liebe – in welchem Lebensalter auch immer – nicht unbedingt auch ein geeignetes Kriterium für eine tragfähige Beziehung sein muss. Gleichzeitig aber auch: dass die sogenannte rationale Vernunft möglicherweise der größte Feind der Liebe sowie des von ihr prophezeiten individuellen Glücks ist.

Diese uralten bittersüßen Fragen verhandelt Yael Hedaya auf gewohnt souveräne Art und Weise und schafft es dabei erneut, das Schwere, von jedem Leser bereits so oder ganz ähnlich selbst Erfahrene so präzise, transparent und wahrhaftig darzustellen, dass man sich im eigenen überraschten Wiedererkennen gleichzeitig aufgehoben, gestärkt und getröstet fühlen darf. Und obwohl die Autorin auch in dieser Erzählung nicht mit einem herkömmlichen Happy End aufzuwarten bereit ist, bleibt die Lektüre stets so federleicht und unterhaltsam, dass sie ohne weiteres auch als Alternative zu jedem lediglich zur Entspannung genossenen trivialen Liebesroman gelten kann.

“Alles bestens”, aus dem Hebräischen von Ruth Melcer, erschienen bei Diogenes, 160 Seiten, € 12,90