Jerusalem

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Montag, 18. Februar 2013

„Der Himmel über Greene Harbor“ von Nick Dybek


Der mit naturgemäß ungleichen Mitteln und umso erbitterterer Vehemenz geführte Kampf des Menschen mit der unkontrollierbar-entfesselten Naturgewalt des Meeres ist in der Literaturgeschichte schon oft dankbar-episches Thema zahlreicher begeisternder Romane und dokumentarischer Sachbücher gewesen. Der begabte junge New Yorker Schriftsteller Nick Dybek, geboren 1980, aufgewachsen im denkbar seefernen Michigan, erzählt in seinem beeindruckend-reifen Debütroman „Der Himmel über Greene Harbor“ von diesem ewigen Ringen aus ganz ungewohnt distanzierter Perspektive. 



Allerdings ist die perspektivische Distanz nur eine scheinbare: denn der vierzehnjährige Erzähler Cal, geistig aufgeweckter einziger Sohn eines beinharten Seemanns und Fischers, der wie alle männlichen Bewohner des kleinen fiktiven Ortes Greene Harbor an der Küste Washingtons jeden Winter mit der Flotte des örtlichen Fischereimagnaten John Gaunt ins tosende Eismeer Alaskas hinausfährt, um mit saisonalem Krabbenfang den Lebensunterhalt fürs ganze Jahr zu verdienen, ist natürlich – obwohl er mit dem gefahrvollen Handwerk seines Vaters nicht unmittelbar zu tun hat – in seiner ganzen Existenz vollkommen geprägt und beeindruckt von dessen hartem, erwachsen-ernsthaftem Beruf: der monatelangen schmerzlichen Abwesenheit, der Angst um dessen Leben und den Depressionen seiner Mutter, einer gebildeten, kultur- und musikinteressierten hübschen jungen Frau, die es aus San Francisco in die regenverhangen-karge Landschaft des amerikanischen Nordwestens und die intellektuell trostlose Atmosphäre des einsamen Fischerstädtchens verschlagen hat.

Es war eine Aura der Einsamkeit. Wir behielten den Kalender im Auge und warteten auf das Chaos, das ausbrach, wenn die Funkgeräte knisterten und knackten, die Telefone läuteten und Reifen auf den Parkplätzen rund um Greene Harbor Staub aufwirbelten. Wir suchten den Horizont nach zurückkehrenden Fischern ab, die abgerissen und mit speckigen Klamotten an Land gingen, ihr Seemannsgarn spannen, ihre Geheimnisse aber für sich behielten.

Und natürlich ist Cals reiche Innenwelt sehnsuchtsvoll angefüllt bis zum Rand mit heroischen Geschichten über das Leben auf See, schaurigen Anekdoten über tragische Schiffsunglücke, tödliche Unfälle und wundersame einsame Heldentaten: die Geschichte von Stevensons berühmt-berüchtigtem Captain Flint aus dessen Generationen-Lieblingsroman „Die Schatzinsel“ hat sein Vater in Form zahlreicher abenteuerlicher Einschlafgeschichten fantasievoll für ihn ausgeschmückt und weitergesponnen. Mit nunmehr vierzehn Jahren ist der aufgeweckte Schüler allerdings auch alt genug um nicht nur zu ahnen, sondern bereits auch verstandesmäßig zu begreifen, dass er selbst möglicherweise niemals mit den anderen Männern hinausfahren und die ersehnten Abenteuer erleben wird.

Denn auch der linkisch-intellektuelle Sohn des von allen geachteten Arbeitgebers John Gaunt, Richard, hat bereits vor Jahren ein ganz ähnliches Schicksal erlitten:

Richard Gaunt verließ Loyalty Island, wie so viele andere, im Alter von achtzehn Jahren. Er hatte noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben, dass sein Vater ihm irgendwann einen Platz auf einem seiner Schiffe anbieten würde, dass er ihn die ganze Zeit über geprüft hatte und dass er, Richard, trotz dieser sauren Jahre die Prüfung bestanden hatte. Aber er war zu stolz, das Thema anzuschneiden, und am Tag der Abschlussfeier drückte John ihm einen Scheck über tausend Dollar in die Hand. Er schenkte Richard einen Blechkuchen und gab ihm die Autoschlüssel für den Volvo. Und er sagte ihm, wie gut er sich mit seinem Hut und dem Talar machte.

Doch wie sein Geistesverwandter Jim Hawkins, der kindliche Erzähler aus Stevensons unvergesslichem Roman, soll schließlich auch Cal ebenso unverhofft wie plötzlich in ein existenzielles Abenteuer hineingezogen werden, von dem er nie zu träumen gewagt hätte und von dem er sich am Ende wünschen wird, es wäre nie geschehen, weil es seine Realität auf eine Weise verändern wird, die am Ende nichts mehr so sein lässt wie es war: weder seine Identität noch seine moralischen Maßstäbe. Denn eines Tages geschieht das Undenkbare: John Gaunt stirbt, sein kauzig-zynischer Sohn wird zum Alleinerben bestellt und verkündet mit unversöhnlich scheinendem Hass auf das fragile soziale Gefüge, dass er die ganze Flotte an japanische Investoren verkaufen werde, womit er hochmütig und bewusst die Existenz der gesamten Region aufs Spiel setzt, die bereits seit Generationen auf die unternehmerische Verantwortung seiner Vorfahren zählen darf.

In der Nacht nach Richards geschmacklosem Auftritt vor der zu diesem Zeitpunkt noch hoffnungsfrohen Versammlung der betroffenen Familien belauscht Cal an der Wohnzimmertür des elterlichen Hauses ein verschwörerisches Gespräch seines Vaters mit zwei seiner Kollegen, das ihn zutiefst verunsichert und Schlimmes ahnen lässt:

Und was passiert, wenn Richard sein Erbe niemals antritt?“ [...]
Es wäre ganz einfach“, sagte Sam.
Es?“, fragte Don.
Da draußen kommen immer irgendwo Leute ums Leben. Sie werden nie gefunden.“
Mir stockte der Atem. Schließlich hörte ich die Stimme meines Vaters. „Wir müssen mit Richard reden. Ich glaube, er wird es irgendwann begreifen. Er muss es.“

Am nächsten Morgen ist überraschenderweise nicht nur die komplette Fangflotte samt Richard in See gestochen, sondern auch seine erneut schwangere Mutter abgereist, um – wie sie selbst verlauten lässt – sich im heimatlich-sonnigen Kalifornien auf die bevorstehende Geburt vorzubereiten. Cal hingegen soll für die Zeit der Abwesenheit seines Vaters bei der Familie von dessen Arbeitskollegen Sam Quartier beziehen. Dessen gleichaltriger filmbegeisterter Sohn Jamie entwickelt sich zu ihrer beider Überraschung zu einem echten Freund und Vertrauten.

Als sie schließlich, nach langem Zögern, gemeinsam Cals schrecklichem Verdacht nachgehen, werden sie von den dunklen, tief-verborgenen Geheimnissen des Meeres mit aller Macht eingeholt und wie von einer mächtigen Welle einfach überspült. „Der Himmel über Greene Harbor“ ist nicht nur einer der beeindruckendsten, spannendsten und bildmächtigsten Romane über die schmerzvolle Ambivalenz des Erwachsenwerdens seit langem, sondern auch ein überwältigendes literarisches Zeugnis dafür, wie das extreme Leben, Überleben und Sterben auf See auch die nächste Generation sowie die sonstigen an Land Gebliebenen unentrinnbar zu prägen vermag.

„Der Himmel über Greene Harbor“, aus dem Amerikanischen von Frank Fingerhuth, erschienen bei mare, 319 Seiten, € 19,90

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