Jerusalem

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Samstag, 19. Januar 2013

Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung 2013


I.


Es ist eine gute Nachricht, dass der Sprachwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal, geboren 1948 in Gelsenkirchen, den diesjährigen Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung erhalten wird. In seiner bereits im Herbst 2011 erschienenen Studie „Europa erfindet die Zigeuner“ zeigt der langjährige Inhaber des Bielefelder Lehrstuhls für Germanistische Literaturwissenschaft auf ebenso frappante wie fesselnde Art und Weise, in welchem Ausmaß die politische und geistige Elite Europas ein Bild vom „Zigeuner“ im Laufe der Jahrhunderte geschaffen und verfestigt hat, das bis heute in zahlreichen Vorurteilen und Stereotypen präsent geblieben ist: ob in seiner negativen Ausprägung im Bild vom „verschlagenen Dieb und Messerstecher“ oder seiner positiven Variante vom „begnadeten Teufelsgeiger“ und musikalischen Genie.



Bogdal stützt sich bei seiner tiefgreifenden Analyse auf verschiedenartigste schriftliche Quellen aus mehr als sechshundert Jahren, die sowohl juristische Dokumente, politische Dekrete und Amtschroniken umfassen als auch literarische oder philosophische Äußerungen von bis heute anerkannten und bewunderten europäischen Geistesgrößen, von denen sich allerdings die wenigsten durch Offenheit, Empathie oder Toleranz auszeichnen.

In der jahrhundertelangen europäischen Wahrnehmung der Roma als scheinbar in Nationalgesellschaften nicht integrierbare Außenseiter drängt sich unwillkürlich eine Parallele zwischen dem Antiziganismus und dem historischen Antisemitismus auf: sowohl Angehörige des Volkes der Roma als auch des Judentums bilden erfolgreiche kosmopolitische Gemeinschaften, die die beschränkende Idee vom Nationalstaat bereits seit Jahrhunderten überwunden zu haben scheinen. Bogdals Sicht auf den Antisemitismus als kleinbürgerliche Reaktion auf vermeintlich unerreichbare Güter wie Bildung und finanziellen Reichtum greift dabei allerdings zu kurz, weil sie historisch zu jung ist. Ähnlich wie das Volk der Roma galt auch die Mehrheit der bitterarmen osteuropäischen Juden gerade den mit einem höheren Lebens- und Bildungsstandard ausgestatteten Bürgern der mitteleuropäischen Nationalstaaten als in besonderem Maße rückständig und primitiv und somit als berechtigterweise hassenswert.

Besonders angesichts des in manchen osteuropäischen Staaten heute wieder beängstigende Ausmaße annehmenden Antiziganismus ist Bogdals ungewöhnliches Buch eine absolute Bereicherung für den gesellschaftlichen Diskurs, weil es zeigt, wie sehr selbst die vermessensten unserer Ideen nachhaltigen Einfluss auf die Realität zu nehmen vermögen.

II.
Unkraut nennt ihr uns.
Dabei sind wir eine andere Getreideart
die unter euch wächst und blüht
und Samen für die Zukunft bringt
wenn ihr zu wachsen ihm erlaubt.

Diese eindringlichen Verse schrieb der im Dezember 2010 in Wien allzu früh verstorbene Roma-Dichter Ilija Jovanović in einem für sein Werk repräsentativen Text in seinem erst posthum erschienenen dritten Gedichtband „Mein Nest in deinem Haar“. Nur wenige Wochen zuvor war der für die Belange seiner Minderheit hoch engagierte langjährige Obmann des Wiener Romano Centro mit dem im deutschen Sprachraum jährlich vergebenen Exil-Lyrikpreis ausgezeichnet worden.



Was Jovanović vor vielen seiner Kollegen auszeichnet, ist die unmittelbare sprachliche und emotionale Zugänglichkeit, die scheinbare „Volkstümlichkeit“, die schwer zu erreichende Einfachheit seiner milde-nachdenklichen unvergesslichen Verse; die fundamentalen Erfahrungen, von denen er schreibt, sind absolut universeller Natur, seine Sprache stets ungekünstelt und authentisch. Viele seiner meist kurzen Gedichte, die das Ausgestoßensein und die Verfolgung der Roma auf eindringliche Art und Weise thematisieren, scheinen immer wieder auch in besonderem Maße die jüdische Erfahrung wiederzugeben, geradezu unvermeidlich und unausweichlich scheint das Schicksal des nicht-dazu-Gehörens, wenn auch in unverkennbar christlicher Symbolik:


Die vielen Hände
die mich peitschen wenn
ich mein Kreuz trage
wissen nicht warum sie es tun
aber sie tun es.
Seit Jahrhunderten tun sie es
diese Hände.

Dennoch bekräftigt Jovanović immer wieder stolz seine Wurzeln, erinnert sich voll Liebe an seine Kindheit, an seine kindliche Liebe zur Mutter und zur Großmutter.


Komm ins Haus Ilija
du wirst vom Regen nass!
Ich komme, sage ich
aber das ist kein Regen Oma es sind
die Tränen unserer Vorfahren sie weinen
weil sie von uns getrennt sind.
Du Narr, sagt sie und lacht.


Als einer, der in einem Romalager geboren, sich ohne höheren Schulabschluss in den verschiedensten Berufen durchgeschlagen hat, die Erfahrung des Ausgestoßenen, des Migranten durchlitten, die österreichische Staatsbürgerschaft erworben und als Dichter in drei Sprachen sich den höchsten künstlerischen Respekt erworben hat, weiß genau, was der Migrant der Gesellschaft zu geben vermag.

So wird in all seinen Versen eine absolut berührende, vorbehaltlose Liebe zu allen belebten Dingen deutlich: Liebe als einzig wahrer Lebensantrieb, die Liebe zum Mitmenschen ebenso wie die erotische Liebe, die uns erst zu jeder anderen Liebe fähig macht, die Selbstliebe, aber auch die Liebe zur Natur.

III.
Die von Erri de Luca geförderte italienische Sozialwissenschaftlerin und Schriftstellerin Milena Magnani verbrachte vor einigen Jahren zu Recherchezwecken ein halbes Jahr in einem Romalager in Norditalien. Diese aufrüttelnde Erfahrung verarbeitete sie zu ihrem von der Literaturkritik zu Recht gefeierten und 2009 mit dem Riviera Buchpreis ausgezeichneten dritten Roman „Der gerettete Zirkus“, der seit Frühjahr 2011 auch in deutscher Sprache vorliegt.




Es ist die Geschichte einer Blutrache, der archaischsten und radikalsten bis heute erhaltenen Ausprägung der sprichwörtlichen biblischen Rechtsauffassung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Der mit allen Attributen eines großen Rhapsoden ausgestattete Erzähler des Buches wird bereits auf der ersten Seite des Buches mit sieben wütend geführten Messerstichen tödlich verletzt und zum Sterben am Rande eines vorwiegend von Roma unterschiedlichster Herkunft bevölkerten Flüchtlingslagers in der namenlosen italienischen Provinz liegen gelassen, wo auch er selbst eine armselige Baracke bewohnte.

Hier trifft sein sterbendes Auge ein letztes Mal auf das von ihm väterlich geliebte und mit aller Macht geförderte Mädchen Senija. Und während die schrecklichen Füchse des Todes schon an Branko schnuppern, den alle nur den hungarez nennen, und mit ihren furchtbaren buschigen Schwänzen über seine Augenlider streifen, nimmt dieser die allerletzte, unermessliche Anstrengung auf sich, für die elenden Kinder des Lagers seine Geschichte zu Ende zu erzählen:

Jetzt, wo das Herz aufgegeben hat, entdecke ich, dass ich mich in einem unermesslichen Raum befinde. Einem Raum, der immer noch weitergeht, und wenn ich es recht bedenke, könnte ich ihn füllen, indem ich den Gedanken freien Lauf lasse, damit ich es noch schaffe, alles zu erklären. Jedenfalls werde ich es versuchen.

In klaren, poetischen Worten erzählt Branko die Geschichte seines Großvaters, eines ungarischen Roma, der zu Beginn der sich abzeichnenden Verfolgung durch die Nazis die Utensilien seines Wanderzirkus’ in der Scheune eines vermeintlichen Freundes versteckt, welcher ihn und seine Familie jedoch bei den Deutschen denunziert. Sein Sohn, Brankos Vater, ist der einzige, der die Hölle von Auschwitz überlebt, und Branko kehrt viele Jahre später zurück, um die Relikte des Zirkus auszulösen, und sich tödlich an dem Verräter zu rächen.

Seine Flucht vor der drohenden Blutrache führt ihn mit den sorgsam von ihm gehüteten Zirkuskisten schließlich in das italienische Flüchtlingslager, wo er mit seinen fantasievollen Geschichten die hoffnungslosen Kinder fasziniert und langsam eine Saat in ihnen aufgehen lässt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu versprechen vermag, welche auch ihre Eltern aus ihrer bleiernen Lethargie herausreißt.

„Der gerettete Zirkus“ ist mit seiner unaufdringlich-zarten, lebensgesättigten Melancholie und seinem grenzenlosen Vertrauen in die Macht der Poesie die eindringlichste und realistischste Schilderung dessen, was die Identität eines Roma in der jüngeren Vergangenheit ausgemacht hat und auch insbesondere heute noch bedeutet.

„Europa erfindet die Zigeuner“, erschienen bei Suhrkamp, 590 Seiten, € 24,90

„Mein Nest in Deinem Haar - Moro kujbo ande cire bal “, erschienen bei Drava, 132 Seiten, € 19,80

„Der gerettete Zirkus“, aus dem Italienischen von Maja Pflug, erschienen bei Edition Nautilus, 189 Seiten, € 18,90

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