Jerusalem

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Samstag, 5. Januar 2013

„Der Buchhändler von Archangelsk“ von Georges Simenon

Die Aussage, dass gute Literatur ebenso zeitlos sei wie ihr vielfältiges, dem realen Leben abgerungenes Material, kann absolut nicht als leere Phrase gelten, wenn man sich vor Augen führt, dass auch außerhalb des fragwürdigen, geradezu unveränderlich scheinenden Kanons der klassischen deutschen Schullektüre bis heute zum Teil jahrhundertealte Werke immer noch gern und mit großem innerem Gewinn – und vor allem freiwillig – gelesen werden, obwohl sie sprachlich für heutige Leser meist eine große Herausforderung darstellen.

Umso schöner, wenn die Sprache eines älteren literarischen Werks der heute gesprochenen immer noch so sehr entspricht, dass man beim Blick ins Impressum umso ernstaunter zurückbleibt über die Aktualität des Stoffes sowie der beschriebenen Charaktere samt all ihrer Motive und Affekte, die ohne wenn und aber der Gefühlswelt eines heutigen, modernen Menschen zu entsprechen scheinen. Der Maigret-Erfinder Georges Simenon (1903-1989) zählt ohne Zweifel nicht nur zu den produktivsten, sondern auch zu den bedeutendsten Schriftstellern des Zwanzigsten Jahrhunderts; seine Kriminalromane, in noch stärkerem Maße aber seine „konventionellen“ Romane verraten einen psychologisch äußerst versierten Autor, der die inneren und äußeren Konflikte seiner Protagonisten auf ebenso anschauliche-mitreissende wie ergreifende Art und Weise in einem kurzweilig-spannenden Text zu formulieren verstand wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation.

In der derzeit bei Diogenes verlegten Edition „Simenon – Ausgewählte Romane in 50 Bänden“ ist nun als Band 38 der herzzerreißende kleine Roman „Der Buchhändler von Archangelsk“ aus dem Jahr 1956 erschienen, der diese Einschätzung exemplarisch zu belegen scheint:

Der vierzigjährige Buchhändler und Antiquar Jonas Milk, in Frankreich aufgewachsener Sohn von russisch-jüdischen Revolutionsflüchtlinge, betreibt seit vielen Jahren mit nicht geringem Erfolg eine kleine Buchhandlung mit Leihbücherei am dreimal wöchentlich lebhaften Marktplatz einer französischen Kleinstadt. Er ist zwar als kurzsichtiger Kauz und schrulliger Briefmarkensammler bekannt, meint sich allerdings unter seinen Nachbarn, die fast allesamt Marktstände oder sonstiges traditionelles Kleingewerbe betreiben, bestens integriert, denn man grüßt sich ebenso herzlich wie freundschaftlich und vermeint alles über den anderen zu wissen.



Außer Büchern und Briefmarken liebt Jonas bedingungs- und vorbehaltlos seine beinahe zwanzig Jahre jüngere, notorisch untreue Ehefrau Gina, seine ehemalige Haushälterin, die ihm vor zwei Jahren auf Betreiben ihrer besorgten Mutter ganz unverhofft das Jawort gegeben hat; er war sich von Anfang an bewusst, dass er dieser bildschönen, verführerischen jungen Frau, die im Städtchen seit Jugendtagen für ihren ausschweifenden Lebenswandel bekannt ist, nichts weiter bieten kann als materielle und „bürgerliche“ Sicherheit.

Ihre zahlreichen Affären erträgt er daher mit bewundernswerter Langmut, wohl wissend, dass eine als „easy lover“ bekannte Frau wie sie immer zu ihm zurückkommen würde. Umso zärtlicher und liebevoller nimmt er sie jedesmal aufs Neue wieder auf, wenn sie – manchmal erst nach Tagen – wortlos zu ihm zurückkehrt. So entsteht im Verlauf der Lektüre das stimmig-zeitlose Bild einer ebenso unkonventionell-vielschichtigen wie widersprüchlichen, liebenswerten Persönlichkeit, der wir als Leser unsere ganze Sympathie entgegenbringen.

Als Gina eines Tages erneut verschwindet, begeht Jonas jedoch einen folgenschweren Fehler:

Er log, und das war ein Fehler. Es wurde ihm in dem Augenblick klar, als er den Mund öffnete, um Fernand Le Bouc zu antworten; und aus Schüchternheit, letztlich aus einem Mangel an Kaltblütigkeit ließ er die Worte unverändert, die ihm über die Lippen kamen.
Und so sagte er: „Sie ist nach Bourges gefahren.“

Diese harmlos scheinende Notlüge, die er unbedacht und sorglos verwendet, um seine Frau und sich selbst vor übler Nachrede zu schützen, erweist sich jedoch im weiteren Verlauf der Handlung als fataler, nicht wieder gut zu machender Fehler, denn anders als all die anderen Male zuvor, kehrt Gina diesmal nicht zu ihm zurück und bleibt spurlos verschwunden, was zu zahllosen Verdächtigungen führt und den sympathisch-widersprüchlichen jüdischen Buchhändler in den Augen der bürgerlich-konventionell denkenden Marktleute sowie der sich schließlich ebenfalls einschaltenden Polizei in den Verdacht rückt, seine Frau ermordet und beseitigt zu haben.

Hier dürfen wir die Meisterschaft des an zahlreichen Kriminalromanen geschärften brillanten Romanciers miterleben, dessen Mittel man allzu leicht zu unterschätzen gewogen ist. Beeindruckend, wie mühelos er Stimmungen, Charakterzeichnungen mit nur wenigen Sätzen und gelungenen Bildern anzudeuten vermag, wofür andere begabte Schriftsteller oft Hunderte von Seiten benötigen. Die Familiengeschichte seines Protagonisten etwa skizziert er in meisterhafter Kürze auf nur einer Seite anhand von dessen lückenloser Sammlung historischer russischer Briefmarken.

Am bitteren Ende bleiben wir ratlos-staunend zurück:

Man hatte ihn nicht verstanden, oder er hatte die andern nicht verstanden, und dieses Missverständnis würde nun wohl nie mehr geklärt werden.

Es ist absolut beeindruckend, wie der Autor auf nicht mehr als 200 Seiten ein Panorama des prallen Lebens auszubreiten vermag – Georges Simenon ist ein großartiger Kenner der menschlichen Gefühls- und Gedankenwelten und bleibt immer wieder eine Entdeckung wert!

„Der Buchhändler von Archangelsk“, aus dem Französischen von Alfred Kuoni, erschienen bei Diogenes, 207 Seiten, € 9,-

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