Jerusalem

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Freitag, 25. Januar 2013

„Aus der Zeit fallen“ von David Grossman


In seinem traurig-optimistischen „Lied vom Choqui“, einer Adaption und Nachdichtung indigener südamerikanischer Folklore, erzählt der Kinder-Liedermacher Fredrik Vahle (geboren 1942) von einem kleinen Indianerjungen, dessen liebster Zeitvertreib es ist, auf hohe Bäume und selbst noch in schwindelerregendste, lebensgefährliche Höhen zu klettern. Eines Tages, als er von seinem verborgenen Aussichtpunkt allmählich anschwellenden Kriegslärm hört und bald darauf auch sieht, wie sich die Soldaten seinem Dorf nähern, verliert er in Panik den Halt und stürzt ungebremst in den allzu frühen sicheren Tod, der uns absolut unfassbar und sinnlos erscheinen muss.

An dieser Stelle jedoch vollzieht sich eine fundamentale Wandlung im Charakter des Liedes: in dem Moment, als jede Hoffnung zu Ende sein müsste, passiert das gänzlich Unerwartete – anstatt auf dem kalten Erdboden zerschmettert zu werden, verwandelt sich der Junge in einen fröhlich zwitschernden Vogel und erhebt sich mit leichtem Flügelschlag erneut in allerhöchste Höhen, um seinem Schicksal die Stirn zu bieten und die Dorfbewohner in ihrem andauernden Kampf mit ungebrochenem Optimismus zu stärken.

Ohnmächtig den Tod des eigenen Kindes miterleben zu müssen, ist ohne Zweifel das schlimmste Trauma und bitterste Schicksal, das liebende Eltern sich vorstellen können. Die märchenhaft-unerwartete Wendung im „Lied vom Choqui“, in der deutlich erkennbar auch der christliche Erlösungsgedanke mittels Auferstehung der menschlichen Seele durchscheint, zeigt auf anschaulichste poetische Art und Weise, wie der vermutlich einzige Weg der Bewältigung eines solchen Verlustes gelingen kann, nämlich durch spirituelle Vergegenwärtigung und eigene innere Wandlung und Neupositionierung.

Der bekannte israelische Schriftsteller und Träger des renommierten Friedenspreises des deutschen Buchhandels David Grossman (geboren 1954) musste im Jahr 2006 den Tod eines seiner Söhne hinnehmen, welcher am letzten Tag des einmonatigen Libanonkriegs als Mitglied einer israelischen Panzerbesatzung von einem Abwehrgeschoss der Hisbollah getroffen wurde. Grossman hatte zuvor gemeinsam mit seinen pominenten Kollegen Abraham B. Jehoschua und Amos Oz eindringlich ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert.

Schon in seinem letzten großen Roman, dem von der Kritik gefeierten „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2008), den er zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte, nähert sich Grossman literarisch diesem eigenen bitteren Lebensthema an: seine Protagonistin entzieht sich darin durch eine mehrtägige Wanderung durch das wilde von Kriegswunden gezeichnete Israel der von ihr befürchteten Überbringung der Nachricht vom Tod ihres Sohnes, der sich kurz zuvor freiwillig zu einem umstrittenen Militäreinsatz gemeldet hatte.



Grossmans neues ambitioniertes Buch „Aus der Zeit fallen“ nähert sich nun aus gänzlich unerwarteter und für sein Werk völlig untypischer Perspektive dem persönlichen Schicksal eines vom Tod des eigenen Sohnes gleichermaßen „tödlich Getroffenen“: in einem vielstimmigen poetisch-erhöhten Text nach dem Vorbild eines antiken Dramas als Wechselgesang vergegenwärtigt er uns unter Zuhilfenahme zahlreicher sprachlicher Archaismen und mit ständigen Perspektivwechseln das gemeinsame Schicksal verschiedener Büger einer archetypischen mittelalterlichen Siedlung, die allesamt den Verlust ihrer Kinder zu beklagen haben und dennoch allein bleiben müssen in ihrer erstarrten Trauer.

Ein transparentes Körperchen,
ein strahlend goldnes Spänchen hat in mir gelebt;
ich wusste: Das bin ich, das ist mein Innerstes,
mein Wesen und der Sinn meines Seins.
Es ward mit mir geboren
und wird auch mit mir sterben, dachte ich –
ahnte ja nicht,
dass ich nach ihm noch weiterleben würde,
als entlebter Mensch,
entseelt, selbst zur Verbannung geworden,
und dass ich lügen würde und es wagen,
ohne mit der Wimper zu zucken „Ich“ zu sagen.

Dabei gelingen Grossman zahlreiche ausdrucksstark-überzeugende Bilder für die Ohnmacht des Trauernden, das Unwiderbringliche des Verlusts, das Ringen um eigenen neuen Lebensmut: buchstäblich „aus der Zeit gefallen“, ja aus jeglichem verstandesmäßig zu bewältigenden Gesamtzusammenhang gerissen, sind alle seine Protagonisten, unfähig sich auf den grausam scheinenden Kreislauf des Lebens einzulassen und sich teils hinter Zynismus, herausforderndem Spott oder der Maske der Hoffnungslosigkeit verstecken. Man spürt Grossmans vergebliches Ringen um persönlichen Trost in nahezu jeder Zeile.

Wie wirst du in meine Augen schauen und ihn dort sehn
wie ein Ungeborenes,
angelegt im Schwarz meiner Pupille.
Jeder Blick, jede Berührung – ein Stich.
Wie werden wir noch einmal lieben, dachte ich
in jener Nacht, wie werden wir lieben,
wo er in solcher Liebe empfangen wurde.

Im Unterschied zum „Lied vom Choqui“ findet jedoch keinerlei spirituelle Verarbeitung des Durchlittenen statt, was vor allem an der überraschend streng scheinenden materialistischen Weltsicht des Autors liegt, der ganz am Ende lediglich zum Anerkennen der bitteren Wahrheit bereit ist:

Und er, er ist tot,
beinah versteh ich die Bedeutung
dieser Klänge: das Kind
ist tot,
ich erkenne an,
dass in den Worten Wahrheit steckt.
Er ist tot.
Er ist tot, doch sein Tod,
sein Tod
ist nicht tot.

Möglicherweise wird Grossmans Buch ohne Kenntnis seiner persönlichen Lebensumstände sowie seiner politischen und philosophischen Positionen in Zukunft milder beurteilt werden können. Da er sich jedoch selbst immer wieder zur Tagespolitik, insbesondere zum Nahostkonflikt zu Wort meldet, fällt es schwer, seinen Text nur als autarkes Werk der Literatur zu sehen und nicht in einen größeren politischen und philosophischen Zusammenhang zu stellen.

Zwischen den Zeilen spüren wir überdeutlich den Wunsch des Autors, in der Trauer über den bitteren Verlust solidarisch zu sein mit all den anderen Trauernden, die ihre Kinder ebenfalls verloren haben. Diese Sehnsucht ist freilich nur allzu verständlich, dennoch scheint es unzulässig, den Tod eines Soldaten, der im Rahmen einer militärischen Aggression gefallen ist, mit dem eines durch Unfall oder tödliche Krankheit gestorbenen Menschen gemein zu machen. Der Tod eines Soldaten auf fremdem Territorium, so beklagenswert er aus humanistischer Sicht bleiben muss, ist kein Unglücksfall, keine Naturkatastrophe, sondern angesichts der genannten Bedingungen ein sogar mit ziemlicher Sicherheit zu erwartendes Ereignis.

Hier gilt es, als engagierter Autor eine eindeutige Position einzunehmen und einen Staat anzuklagen, der es seinen Bürgern im Rahmen ihres obligatorischen Militärdienstes abverlangt, für ihn in den Krieg zu ziehen. Dass Grossman dies in dieser Form weder in seinem großen Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ wagt, noch in seinem neuen Buch „Aus der Zeit fallen“, hinterlässt im Leser das nicht zu leugnende nachhaltige Gefühl eines deutlichen Makels. Hierin liegt die eigentliche Tragödie: in dem, was Grossman in zwei Büchern so wortreich verschweigt.

„Aus der Zeit fallen“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen bei Hanser, 128 Seiten, € 16,90

Mittwoch, 23. Januar 2013

„Der Vogel hat keine Flügel mehr“ von Angelika Schrobsdorff

Es gibt wohl kaum intimere schriftliche Lebensäußerungen des sich selbst und seine Umwelt reflektierenden Menschen als seine privaten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen; aus gutem Grund gelten diese in der Regel als „geheim“ und ihre Lektüre ist selbst im engsten familiären Rahmen streng tabuisiert. Was also bewegt Menschen immer wieder, diese hoch persönlichen Dokumente und oft ungewollten Hinterlassenschaften verstorbener Angehöriger dennoch, etwa in Buchform, einer allgemeinen breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, für die sie nicht nur niemals vorgesehen waren, sondern deren mögliche öffentliche Kenntnis für den jeweiligen Verfasser sogar mit großen Ängsten besetzt gewesen sein dürfte?

Die jeweiligen Gründe für eine Veröffentlichung dürften individuell ausgesprochen vielschichtig, mitunter gar für den jeweiligen Herausgeber wenig schmeichelhaft sein; im Einzelfall jedoch spricht vermutlich gerade der intime subjektive Rahmen des entsprechenden autobiografischen Materials für eine Veröffentlichung: da der Verfasser im ursprünglichen Rahmen seiner Niederschrift keine Öffentlichkeit fürchten muss, kann er sich vollkommen ehrlich und unmittelbar im Sinne seiner ureigensten Lebenserfahrung, seiner Gedanken, Träume und Gefühle äußern – ehrliche, treffende Worte aber sind immer ein seltenes Ereignis, das, einmal gehört oder gelesen, nur schwer zu leugnen oder wieder zu vergessen ist.

Dies gilt umso mehr, wenn diese Lebensäußerungen noch dazu eine universelle Wahrheit auszudrücken vermögen, die andere, öffentlich getätigte Äußerungen der jeweils exponierteren Zeitgenossen im selben historischen und gesellschaftlichen Kontext an Relevanz derart übertreffen, dass sie ohne Einschränkung als allgemeingültig wahrgenommen werden können, möglicherweise sogar im Sinn einer kollektiven Erfahrung.

Die Briefe ihres älteren Bruders Peter Schwiefert (1917-1945) aus dem selbst gewählten kämpferischen Exil als Mitglied der Forces Françaises Libres an die gemeinsame Mutter Else, zu deren Herausgabe sich Angelika Schrobsdorff (geboren 1927) erst vierzig Jahre nach deren erstem Erscheinen in französischer Sprache, damals noch ausgewählt und veröffentlicht von ihrem damaligen Mann, dem Dokumentarfilmer und Journalisten Claude Lanzmann, nun endlich entschließen konnte, sind ein großer Glücksfall, nicht nur für den Kenner ihres eigenen literarischen Werkes, sondern auch für den allgemein-interessierten Leser, da sie die oben beschriebenen Kriterien auf vorbildliche Art und Weise erfüllen.



In ihren autobiografischen Büchern kehrt Angelika Schrobsdorff immer wieder zu jenem „magischen Moment“ zurück, in dem sie achtzehn Jahre nach dem Tod ihres Bruder im Nachlass ihrer Mutter dessen Briefe entdeckte, deren intensive Lektüre ihrem bis dahin unsteten Leben erstmals eine konkrete Richtung zu geben vermochte und sie dazu bewog, in Israel auf Spurensuche zu gehen, dort womöglich noch Menschen zu treffen, die ihren „unbekannten“ Bruder noch gekannt, ihn womöglich sogar noch glücklich gesehen hatten.

Sie selbst hatte den Krieg gemeinsam mit ihrer Mutter Else und der älteren Schwester Bettina in Bulgarien überlebt, wohin sie dank einer Scheinehe gelangt waren. Else, die ihre großbürgerlich-jüdische Herkunft stets auch vor sich selbst verleugnet hatte, war vorher sogar zum bulgarisch-orthodoxen Christentum konvertiert und bemühte sich jahrelang redlich, jedoch erfolglos einen Zugang zur christlichen Religion zu finden.

Ihr Sohn aus erster Ehe, Peter Schwiefert, von den Nazis als sogenannter „Halbjude“ gebrandmarkt, wählte einen radikal anderen Weg: ausgerechnet er, der künstlerisch und literarisch hoch Begabte, der Bonvivant und Frauenschwarm, der sich nie für Politik interessiert hatte und dem scheinbar stets das Glück in den Schoß gefallen war, bekannte sich 1938 ohne jeden Vorbehalt zu seiner jüdischen Herkunft und reiste mit äußerst bescheidenen finanziellen Mittel zur großen Sorge seiner Angehörigen ins damals neutrale Portugal, von wo er nach Südamerika emigrieren zu können hoffte. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, was seiner politischen Position nur umso heftiger eine unverkennbare und entschiedene Richtung gab. Mit wachen Sinnen und prophetisch-klarem Verstand hatte Peter Schwiefert bei Kriegsbeginn erkannt, dass sein Platz im bewaffneten Kampf gegen Hitler-Deutschland sein müsse und so hatte er sich 1940 als Soldat für die unter dem Befehl der britischen Armee agierende französische militärische Freiheitsbewegung verpflichtet.

Wechselnde Kriegsschauplätze führten ihn nach Ägypten, Syrien, Libyen, Tunesien und Italien, gegen Kriegsende schließlich nach Frankreich, wo er zwei Tage nach seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag im Verlauf einer letzten deutschen Offensive getötet wurde. In den sieben Jahren seit seiner Flucht hatte er seiner Mutter regelmäßig lange Briefe geschrieben, in denen er seine Position ausführlich erläutert und auch auf zärtlichste Art und Weise die gegenseitige Beziehung samt aller gegenseitigen Missverständnisse zu erkunden und zu heilen versuchte. Sein sehnlichster Wunsch in all diesen Jahren war ein Wiedersehen mit seiner Familie in Frieden und Freiheit, für die er unbeirrt sein Leben einsetzte.

Ein halbes Jahr später, ausgerechnet an ihrem Geburtstag, erhielt Else einen letzten langen versöhnlich-aufgeräumten Brief von ihrem Sohn, der es ihr erstmals seit Jahren ermöglichte sich voll und ganz zu öffnen. Doch dann, nur zwei Wochen später, der große Schock, von dem sich Else nie wieder erholen sollte – die niederschmetternde Nachricht von Peters Tod:

In meiner Antwort auf seinen langen, schönen Brief konnte ich ihm zum ersten Mal sagen, wie sehr ich ihn liebe, achte und bewundere; dass ich ihm danke und um Verzeihung bitte. Und all das wird er nun nie erfahren. Für mich ist er gestorben, und er hat nicht gewusst, wie lieb ich ihn habe.

Die Briefe von Peter Schwiefert sind in der Tat ein großes Geschenk: sie zeigen nicht nur auf vorbildliche Art und Weise, wie mutig sich jemand in finsteren Zeiten entschieden hat, der eigentlich nach dem Willen der vermessenen Machthaber keine Wahl hatte; sie sind auch großartige Dokumente eines mutigen, vorwärtsgewandten Lebens und ein überzeugender Appell an uns alle, unsere aus persönlicher Einsicht gewonnenen Ideale niemals preiszugeben. Es war allerhöchste Zeit, diese von klaren Gedanken, integrer Urteilskraft und zärtlicher Liebe getragenen unvergesslichen Briefe auch dem deutschen Publikum endlich zugänglich zu machen.

„Der Vogel hat keine Flügel mehr“, mit Kommentaren von Angelika Schrobsdorff und Claude Lanzmann, erschienen bei dtv, 294 Seiten, €19,90

Samstag, 19. Januar 2013

Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung 2013


I.


Es ist eine gute Nachricht, dass der Sprachwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal, geboren 1948 in Gelsenkirchen, den diesjährigen Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung erhalten wird. In seiner bereits im Herbst 2011 erschienenen Studie „Europa erfindet die Zigeuner“ zeigt der langjährige Inhaber des Bielefelder Lehrstuhls für Germanistische Literaturwissenschaft auf ebenso frappante wie fesselnde Art und Weise, in welchem Ausmaß die politische und geistige Elite Europas ein Bild vom „Zigeuner“ im Laufe der Jahrhunderte geschaffen und verfestigt hat, das bis heute in zahlreichen Vorurteilen und Stereotypen präsent geblieben ist: ob in seiner negativen Ausprägung im Bild vom „verschlagenen Dieb und Messerstecher“ oder seiner positiven Variante vom „begnadeten Teufelsgeiger“ und musikalischen Genie.



Bogdal stützt sich bei seiner tiefgreifenden Analyse auf verschiedenartigste schriftliche Quellen aus mehr als sechshundert Jahren, die sowohl juristische Dokumente, politische Dekrete und Amtschroniken umfassen als auch literarische oder philosophische Äußerungen von bis heute anerkannten und bewunderten europäischen Geistesgrößen, von denen sich allerdings die wenigsten durch Offenheit, Empathie oder Toleranz auszeichnen.

In der jahrhundertelangen europäischen Wahrnehmung der Roma als scheinbar in Nationalgesellschaften nicht integrierbare Außenseiter drängt sich unwillkürlich eine Parallele zwischen dem Antiziganismus und dem historischen Antisemitismus auf: sowohl Angehörige des Volkes der Roma als auch des Judentums bilden erfolgreiche kosmopolitische Gemeinschaften, die die beschränkende Idee vom Nationalstaat bereits seit Jahrhunderten überwunden zu haben scheinen. Bogdals Sicht auf den Antisemitismus als kleinbürgerliche Reaktion auf vermeintlich unerreichbare Güter wie Bildung und finanziellen Reichtum greift dabei allerdings zu kurz, weil sie historisch zu jung ist. Ähnlich wie das Volk der Roma galt auch die Mehrheit der bitterarmen osteuropäischen Juden gerade den mit einem höheren Lebens- und Bildungsstandard ausgestatteten Bürgern der mitteleuropäischen Nationalstaaten als in besonderem Maße rückständig und primitiv und somit als berechtigterweise hassenswert.

Besonders angesichts des in manchen osteuropäischen Staaten heute wieder beängstigende Ausmaße annehmenden Antiziganismus ist Bogdals ungewöhnliches Buch eine absolute Bereicherung für den gesellschaftlichen Diskurs, weil es zeigt, wie sehr selbst die vermessensten unserer Ideen nachhaltigen Einfluss auf die Realität zu nehmen vermögen.

II.
Unkraut nennt ihr uns.
Dabei sind wir eine andere Getreideart
die unter euch wächst und blüht
und Samen für die Zukunft bringt
wenn ihr zu wachsen ihm erlaubt.

Diese eindringlichen Verse schrieb der im Dezember 2010 in Wien allzu früh verstorbene Roma-Dichter Ilija Jovanović in einem für sein Werk repräsentativen Text in seinem erst posthum erschienenen dritten Gedichtband „Mein Nest in deinem Haar“. Nur wenige Wochen zuvor war der für die Belange seiner Minderheit hoch engagierte langjährige Obmann des Wiener Romano Centro mit dem im deutschen Sprachraum jährlich vergebenen Exil-Lyrikpreis ausgezeichnet worden.



Was Jovanović vor vielen seiner Kollegen auszeichnet, ist die unmittelbare sprachliche und emotionale Zugänglichkeit, die scheinbare „Volkstümlichkeit“, die schwer zu erreichende Einfachheit seiner milde-nachdenklichen unvergesslichen Verse; die fundamentalen Erfahrungen, von denen er schreibt, sind absolut universeller Natur, seine Sprache stets ungekünstelt und authentisch. Viele seiner meist kurzen Gedichte, die das Ausgestoßensein und die Verfolgung der Roma auf eindringliche Art und Weise thematisieren, scheinen immer wieder auch in besonderem Maße die jüdische Erfahrung wiederzugeben, geradezu unvermeidlich und unausweichlich scheint das Schicksal des nicht-dazu-Gehörens, wenn auch in unverkennbar christlicher Symbolik:


Die vielen Hände
die mich peitschen wenn
ich mein Kreuz trage
wissen nicht warum sie es tun
aber sie tun es.
Seit Jahrhunderten tun sie es
diese Hände.

Dennoch bekräftigt Jovanović immer wieder stolz seine Wurzeln, erinnert sich voll Liebe an seine Kindheit, an seine kindliche Liebe zur Mutter und zur Großmutter.


Komm ins Haus Ilija
du wirst vom Regen nass!
Ich komme, sage ich
aber das ist kein Regen Oma es sind
die Tränen unserer Vorfahren sie weinen
weil sie von uns getrennt sind.
Du Narr, sagt sie und lacht.


Als einer, der in einem Romalager geboren, sich ohne höheren Schulabschluss in den verschiedensten Berufen durchgeschlagen hat, die Erfahrung des Ausgestoßenen, des Migranten durchlitten, die österreichische Staatsbürgerschaft erworben und als Dichter in drei Sprachen sich den höchsten künstlerischen Respekt erworben hat, weiß genau, was der Migrant der Gesellschaft zu geben vermag.

So wird in all seinen Versen eine absolut berührende, vorbehaltlose Liebe zu allen belebten Dingen deutlich: Liebe als einzig wahrer Lebensantrieb, die Liebe zum Mitmenschen ebenso wie die erotische Liebe, die uns erst zu jeder anderen Liebe fähig macht, die Selbstliebe, aber auch die Liebe zur Natur.

III.
Die von Erri de Luca geförderte italienische Sozialwissenschaftlerin und Schriftstellerin Milena Magnani verbrachte vor einigen Jahren zu Recherchezwecken ein halbes Jahr in einem Romalager in Norditalien. Diese aufrüttelnde Erfahrung verarbeitete sie zu ihrem von der Literaturkritik zu Recht gefeierten und 2009 mit dem Riviera Buchpreis ausgezeichneten dritten Roman „Der gerettete Zirkus“, der seit Frühjahr 2011 auch in deutscher Sprache vorliegt.




Es ist die Geschichte einer Blutrache, der archaischsten und radikalsten bis heute erhaltenen Ausprägung der sprichwörtlichen biblischen Rechtsauffassung, Gleiches mit Gleichem zu vergelten: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Der mit allen Attributen eines großen Rhapsoden ausgestattete Erzähler des Buches wird bereits auf der ersten Seite des Buches mit sieben wütend geführten Messerstichen tödlich verletzt und zum Sterben am Rande eines vorwiegend von Roma unterschiedlichster Herkunft bevölkerten Flüchtlingslagers in der namenlosen italienischen Provinz liegen gelassen, wo auch er selbst eine armselige Baracke bewohnte.

Hier trifft sein sterbendes Auge ein letztes Mal auf das von ihm väterlich geliebte und mit aller Macht geförderte Mädchen Senija. Und während die schrecklichen Füchse des Todes schon an Branko schnuppern, den alle nur den hungarez nennen, und mit ihren furchtbaren buschigen Schwänzen über seine Augenlider streifen, nimmt dieser die allerletzte, unermessliche Anstrengung auf sich, für die elenden Kinder des Lagers seine Geschichte zu Ende zu erzählen:

Jetzt, wo das Herz aufgegeben hat, entdecke ich, dass ich mich in einem unermesslichen Raum befinde. Einem Raum, der immer noch weitergeht, und wenn ich es recht bedenke, könnte ich ihn füllen, indem ich den Gedanken freien Lauf lasse, damit ich es noch schaffe, alles zu erklären. Jedenfalls werde ich es versuchen.

In klaren, poetischen Worten erzählt Branko die Geschichte seines Großvaters, eines ungarischen Roma, der zu Beginn der sich abzeichnenden Verfolgung durch die Nazis die Utensilien seines Wanderzirkus’ in der Scheune eines vermeintlichen Freundes versteckt, welcher ihn und seine Familie jedoch bei den Deutschen denunziert. Sein Sohn, Brankos Vater, ist der einzige, der die Hölle von Auschwitz überlebt, und Branko kehrt viele Jahre später zurück, um die Relikte des Zirkus auszulösen, und sich tödlich an dem Verräter zu rächen.

Seine Flucht vor der drohenden Blutrache führt ihn mit den sorgsam von ihm gehüteten Zirkuskisten schließlich in das italienische Flüchtlingslager, wo er mit seinen fantasievollen Geschichten die hoffnungslosen Kinder fasziniert und langsam eine Saat in ihnen aufgehen lässt, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu versprechen vermag, welche auch ihre Eltern aus ihrer bleiernen Lethargie herausreißt.

„Der gerettete Zirkus“ ist mit seiner unaufdringlich-zarten, lebensgesättigten Melancholie und seinem grenzenlosen Vertrauen in die Macht der Poesie die eindringlichste und realistischste Schilderung dessen, was die Identität eines Roma in der jüngeren Vergangenheit ausgemacht hat und auch insbesondere heute noch bedeutet.

„Europa erfindet die Zigeuner“, erschienen bei Suhrkamp, 590 Seiten, € 24,90

„Mein Nest in Deinem Haar - Moro kujbo ande cire bal “, erschienen bei Drava, 132 Seiten, € 19,80

„Der gerettete Zirkus“, aus dem Italienischen von Maja Pflug, erschienen bei Edition Nautilus, 189 Seiten, € 18,90

Mittwoch, 16. Januar 2013

„Der Mann, der sich selbst besuchte“ von Hans Sahl



Mit dem nun endlich vorliegenden abschließenden vierten Band der ambitionierten Werkausgabe des heute leider wieder einmal nahezu vergessen scheinenden großartigen deutsch-jüdischen Lyrikers und Romanciers Hans Sahl (1902-1993) eröffnet sich dem Leser jetzt eine vierte hochwillkommene, dringend zu ergreifende Chance, die unverwechselbare Stimme eines höchst originellen, ebenso geistreichen wie tiefgründigen Schriftstellers und Zeit seines langen Lebens stets hellwachen Beobachters und absolut integren literarischen Chronisten seiner Umwelt wiederzuentdecken, bevor die allseits bekannten Mechanismen des auf vordergründige Aktualität im Sinne vorübergehender Trends zielenden gegenwärtigen Literaturbetriebs ihn wieder dem unvermeidlich scheinenden allmählichen Vergessen aussetzen mögen.

Besonders Sahls ausgefeilte, aussagekräftige Gedichte dürfen wir heute wieder verstreut in zahlreichen verdienstvollen Anthologien deutscher Lyrik des furchtbaren und wechselhaften Zwanzigsten Jahrhunderts wiederentdecken:

Manch ein Land hat mich in manch einer Nacht
Um den Schlaf gebracht,
den ich verdiene,
die aus Zeitersparnis erfundene Guillotine,
die chemische Judenausrottungsmaschine
und der Gulag Archipel,
nicht von Deutschen erdacht.
Denk ich an den Menschen in der Nacht,
bin ich um den Verstand gebracht.

Seine aufschlussreichen Erinnerungen „Memoiren eines Moralisten“ und „Das Exil im Exil“ sowie sein einziger Schlüsselroman „DieWenigen und die Vielen“ legen eindrucksvoll Zeugnis ab von einer universell gebildeten, freigeistigen, ebenso scharfsinnigen wie streitlustigen Künstlerpersönlichkeit, die angesichts der Machtübernahme der Nationalsozialisten den Weg des Exils zu gehen gezwungen war, auch dort nicht vor politischen Kämpfen zurückschreckte und darüber hinaus noch aus erster Hand bildreich davon berichten konnte, „wie Brecht gespuckt und Thomas Mann sich geräuspert hat“, wie er selber schreibt.



Der abschließende vierte Band „Der Mann der sich selbst besuchte – Die Erzählungen und Glossen“ bietet neben dem, was wir von Sahl bereits zu kennen glauben, zahlreiche literarische Kabinettstückchen und sonstige kunstvolle Überraschungen: so in der Titelgeschichte eine erfrischende Erzählung mit absurd-tiefgründigem Inhalt, die auf wohltuend-eigenständige Weise Anklänge an Franz Kafka und Daniil Charms ausgestaltet. In anderen konventionelleren Erzählungen erleben wir den als Sohn eines großbürgerlichen jüdischen Kaufmanns in Berlin aufgewachsenen Schriftsteller vor allem als nachsichtigen Menschenfreund, der seinen unzulänglichen Protagonisten seine ganze Sympathie und all sein Mitgefühl entgegenbringt und auch Tieftrauriges mit den unerwarteten Sonnenstrahlen seines empathischen Humors zu beleuchten vermag.

Besonders lesenswert allerdings sind Hans Sahls zahlreiche, seit 1926 in den Feuilletons der unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften erschienene Glossen, die von den Herausgebern Nils Kern und Klaus Siblewski unter der Prämisse eines deutlich erkennbaren erzählerischen Kerns ausgewählt wurden, um sie auf diese Weise von seinen unzähligen „gewöhnlichen“ Literatur- und Filmkritiken abgrenzen zu können, die im vorliegenden Band explizit nicht erscheinen.

Angesichts des weitgehend unwidersprochen bleibenden aktuellen schleichenden Rechtsrucks in unserer Gesellschaft wirkt insbesondere Hans Sahls ebenso sprachmächtiger wie scharfsinniger fünfunddreißigseitiger Essay „Klassiker der Leihbibliothek“ über Wegbereiter des Nationalsozialismus aus der Unterhaltungsliteratur sehr erhellend, da wir hier einerseits vergessene Namen wie Rudolf Herzog, Rudolf Stratz, Richard Skowronnek oder Fedor von Zobeltitz wiederhören, die im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik zu den unangefochtenen Bestsellerautoren ihrer Generation gehörten und deren zweifelhafter Verdienst es ist, in ihren Abenteuerromanen und Liebesschmonzetten ihre Leser bereits frühzeitig auf die Machtübernahme Hitlers und dessen lebensfeindlich-menschenverachtende Ideologie eingeschworen zu haben:

Dieses skrupellose Vorbeisehen an jeder menschlichen und politischen Realität aber entfaltet in „Wieland, der Schmied“ eine quallige Gesinnungspampe aus Blut, Eisen, Brutalität und Familiensinn, deren literarischer Niederschlag einen fleißigen Besuch gewisser germanistischer Proseminare unschwer erkennen lässt.

Als dankbare Parallellektüre hierzu empfiehlt sich übrigens die soeben als griffige Taschenbuchausgabe erschienene wissenschaftliche Untersuchung „Lesen unter Hitler“ des Germanisten Christian Adam.

Als US-Kulturkorrespondent für renommierte Zeitungen wie die Süddeutsche, NZZ oder Die Zeit veröffentlichte Hans Sahl auch zahlreiche absolut lesenswerte Glossen über speziell-amerikanische Kunstformen, insbesondere den Film oder bekannte Schauspieler, schrieb aber auch immer wieder besonders plastisch über das Generationenschicksal des persönlichen und künstlerischen Exils sowie dessen prominente Protagonisten.

Laß mich noch leben, mein Ich,
warte, bis ich mich vollende.
Nimm nicht in deine Hände,
was noch mein ist: mein Ende.

Auch wenn der Schriftsteller und Dichter Hans Sahl nach Abschluss der nun kompletten Werkausgabe auf absehbare Zeit wieder aus dem Bewusstsein des deutschen Lesepublikums schwinden sollte, ist seine Bedeutung für die deutsche Literatur und das Geistesleben im Deutschland des Zwanzigsten Jahrhunderts so unbestreitbar groß, dass eine erneute „Wiederentdeckung“ zu einem späteren Zeitpunkt glücklicherweise unvermeidlich erscheinen muss.

„Der Mann, der sich selbst besuchte“, erschienen bei Luchterhand, 416 Seiten, €

Dienstag, 8. Januar 2013

„Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“ von Michael Köhlmeier


Zahlreiche Lyrik-Wettberwerbe im deutschen Sprachraum lehnen bis heute bereits in ihrer Ausschreibung explizit die Einsendung von „Befindlichkeitslyrik“ ab; dieser unscharfe Begriff, den man im übrigen in kaum einem renommierten Literaturlexikon und nicht einmal bei Wikipedia vorfindet, zielt vor allem darauf ab, die subjektiven Erlebniswelten des einzelnen Individuums als literarisches Material der Lyrik von vornherein zu diskreditieren.

Während man in einer pluralistischen Gesellschaft gemeinhin größten Wert auf das bereichernde Gesamtbild der unterschiedlichsten in ihr vorhandenen Wahrnehmungen und Sinneseindrücke legt, soll dies ausgerechnet in der sogenannten „Königsdisziplin“ der Literatur, der Poesie nicht gelten? Die großen Poeten der Weltliteratur haben immer wieder in ihren Werken aus ihrer individuellen Wahrnehmung heraus wichtige Nadelstiche gegen den Zeitgeist gesetzt; selbst Günter Grass – der sich selbst fern der Befindlichkeitslyrik sehen dürfte – stellt sein misslungenes Pseudo-Gedicht „Was gesagt werden muss“ aus dem vergangenen Jahr bewusst in diesen Zusammenhang.

Dieses eklatante Missverhältnis lässt sich vermutlich nur durch den weitreichenden Missbrauch der deutschen Sprache durch die Nationalsozialisten erklären: eine ganze Generation begabter deutscher Lyriker hat nach 1945 gleichsam nur gegen diesen Sprachmissbrauch angeschrieben. Dabei hat diese Generation teilweise unbewusst literaturferne Ideen übernommen, die ihren Werken zwar eine anerkennenswerte politische und literaturtheoretische Dimension aufprägte, diese aber gleichzeitig für den gewöhnlichen Leser unattraktiv machte.


Nicht umsonst zählt die Lyrik innerhalb des deutschen Literaturbetriebs heute zu den unpopulärsten Genres überhaupt, während sie vor dem Zweiten Weltkrieg noch zu den beliebtesten und am meisten gelesenen gehörte. Lyrik ist manchem Leser so kostbar, dass er sie auswendig lernt, um sie immer bei sich tragen zu können.

Der österreichische Maler und prominente Vertreter des Phantastischen Realismus Arik Brauer (geboren 1929) schreibt in seinem Band „Museum und Sammlung“(2011):

Die künstlerische Substanz und Qualität eines Werkes ist aber völlig unabhängig von seinem Verwendungszweck. Ein Kunstwerk ist gut, wenn es gut ist, auch dann, wenn es dazu dient Menschen einzuschüchtern, zu beherrschen und zu verführen. Ein Kunstwerk wird nicht besser und nicht schlechter, wenn es mit der Absicht geschaffen wurde das Publikum zu erfreuen, einzulullen, aufzurütteln, zu verstören oder als Neuerung darzustellen. Die Wirkung, für die es geschaffen wurde, verliert mit der Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen ihre Kraft, aber der Wert bleibt erhalten. Kunst ist in ihrem Kern unabhängig von den Entwicklungen und Veränderungen der Gesellschaft. Wir haben auch aus diesem Grund überhaupt kein Problem, Jahrtausende alte Kunstwerke zu verstehen und zu bewundern.

Davon, wie leicht und unmittelbar zugänglich, wie humorvoll und geistreich, aber auch wie tiefgründig und originell deutsche Lyrik sein kann, beweist derzeit die im Herbst 2012 bei dtv erschienene vorbildlich erarbeitete Gesamtausgabe von Mascha Kaleko (1907-1975), die wie kaum eine andere deutsche Dichterin des Zwanzigsten Jahrhunderts das Schwere ganz einfach auszudrücken vermochte.

Aber auch der österreichische Romancier und meisterhafte Geschichtenerzähler Michael Köhlmeier, für den das Erzählen von jeher einen Wert an sich darstellt, zeigt in seinem in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser erschienenen ersten Lyrikband „Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“, wie der sprichwörtliche „erste“, mitunter gar kindlich-naive Blick des Dichters alles, was er beobachtet und niederschreibt zu Poesie werden lassen kann:

Ihre kleinen Füße mit den kleinen Zehen
Sind nackt und sind fleckig vom Regen.
Komm, schau dir das an! Als wär er

Vom Himmel gefallen!“ Ein Salamander
Mitten in der Stadt, das Köpfchen erhoben,
Wie wenn er neugierig wär. „Und wenn er's ist?“

Sie hockt sich auf ihre Fersen, spreizt
Die Schenkel und blickt zwischen ihnen
Hindurch auf das kleine schwarze Tier.

Durch die Augen des mit unverbrauchtem Enthusiasmus debütierenden Lyrikers Köhlmeier erleben wir unverhofft zahlreiche uns bekannte alltägliche Situationen scheinbar neu, mit wachen Sinnen und zärtlichem, ja geradezu liebevoll-verständnisinnigem Blick. Und dieser Blick des Wiedererkennens vermag uns tatsächlich innerlich zu stützen, da er uns ermöglicht, gleichsam aus uns heraus zu schlüpfen und so eine neuartige, möglicherweise „heilsame“ Perspektive einzunehmen, aus der wir uns auf geradezu meditative Art und Weise gleichsam „von oben“ ganz unvoreingenommen selbst betrachten und den Zauber des Augenblicks wiederentdecken können:

Auf das Weiße
In ihren Augen
Lässt sie tätowieren:
Find Mich Im Wald

So entstehen zahlreiche unverbrauchte, äußerst einprägsame poetische Bilder im Leser, die nicht nur im Blick auf die Realität seine Imagination anregen, sondern auch dazu ermutigen, sich die scheinbar banalen Dinge des Alltags konsequent bewusst zu machen und diese dadurch für sich neu zu definieren und auszugestalten. Dadurch entsteht Unterhaltung im besten Sinne: nämlich ebenso anregende wie nachhaltige Beschäftigung für Geist und Seele, die bewirkt, dass wir uns im sprichwörtlichen Spiegel nicht nur angucken dürfen, sondern uns dabei sogar selber zuzulächeln vermögen.

„Der Liebhaber bald nach dem Frühstück“, erschienen bei Hanser, 96 Seiten, € 14,90

Samstag, 5. Januar 2013

„Der Buchhändler von Archangelsk“ von Georges Simenon

Die Aussage, dass gute Literatur ebenso zeitlos sei wie ihr vielfältiges, dem realen Leben abgerungenes Material, kann absolut nicht als leere Phrase gelten, wenn man sich vor Augen führt, dass auch außerhalb des fragwürdigen, geradezu unveränderlich scheinenden Kanons der klassischen deutschen Schullektüre bis heute zum Teil jahrhundertealte Werke immer noch gern und mit großem innerem Gewinn – und vor allem freiwillig – gelesen werden, obwohl sie sprachlich für heutige Leser meist eine große Herausforderung darstellen.

Umso schöner, wenn die Sprache eines älteren literarischen Werks der heute gesprochenen immer noch so sehr entspricht, dass man beim Blick ins Impressum umso ernstaunter zurückbleibt über die Aktualität des Stoffes sowie der beschriebenen Charaktere samt all ihrer Motive und Affekte, die ohne wenn und aber der Gefühlswelt eines heutigen, modernen Menschen zu entsprechen scheinen. Der Maigret-Erfinder Georges Simenon (1903-1989) zählt ohne Zweifel nicht nur zu den produktivsten, sondern auch zu den bedeutendsten Schriftstellern des Zwanzigsten Jahrhunderts; seine Kriminalromane, in noch stärkerem Maße aber seine „konventionellen“ Romane verraten einen psychologisch äußerst versierten Autor, der die inneren und äußeren Konflikte seiner Protagonisten auf ebenso anschauliche-mitreissende wie ergreifende Art und Weise in einem kurzweilig-spannenden Text zu formulieren verstand wie kaum ein anderer Schriftsteller seiner Generation.

In der derzeit bei Diogenes verlegten Edition „Simenon – Ausgewählte Romane in 50 Bänden“ ist nun als Band 38 der herzzerreißende kleine Roman „Der Buchhändler von Archangelsk“ aus dem Jahr 1956 erschienen, der diese Einschätzung exemplarisch zu belegen scheint:

Der vierzigjährige Buchhändler und Antiquar Jonas Milk, in Frankreich aufgewachsener Sohn von russisch-jüdischen Revolutionsflüchtlinge, betreibt seit vielen Jahren mit nicht geringem Erfolg eine kleine Buchhandlung mit Leihbücherei am dreimal wöchentlich lebhaften Marktplatz einer französischen Kleinstadt. Er ist zwar als kurzsichtiger Kauz und schrulliger Briefmarkensammler bekannt, meint sich allerdings unter seinen Nachbarn, die fast allesamt Marktstände oder sonstiges traditionelles Kleingewerbe betreiben, bestens integriert, denn man grüßt sich ebenso herzlich wie freundschaftlich und vermeint alles über den anderen zu wissen.



Außer Büchern und Briefmarken liebt Jonas bedingungs- und vorbehaltlos seine beinahe zwanzig Jahre jüngere, notorisch untreue Ehefrau Gina, seine ehemalige Haushälterin, die ihm vor zwei Jahren auf Betreiben ihrer besorgten Mutter ganz unverhofft das Jawort gegeben hat; er war sich von Anfang an bewusst, dass er dieser bildschönen, verführerischen jungen Frau, die im Städtchen seit Jugendtagen für ihren ausschweifenden Lebenswandel bekannt ist, nichts weiter bieten kann als materielle und „bürgerliche“ Sicherheit.

Ihre zahlreichen Affären erträgt er daher mit bewundernswerter Langmut, wohl wissend, dass eine als „easy lover“ bekannte Frau wie sie immer zu ihm zurückkommen würde. Umso zärtlicher und liebevoller nimmt er sie jedesmal aufs Neue wieder auf, wenn sie – manchmal erst nach Tagen – wortlos zu ihm zurückkehrt. So entsteht im Verlauf der Lektüre das stimmig-zeitlose Bild einer ebenso unkonventionell-vielschichtigen wie widersprüchlichen, liebenswerten Persönlichkeit, der wir als Leser unsere ganze Sympathie entgegenbringen.

Als Gina eines Tages erneut verschwindet, begeht Jonas jedoch einen folgenschweren Fehler:

Er log, und das war ein Fehler. Es wurde ihm in dem Augenblick klar, als er den Mund öffnete, um Fernand Le Bouc zu antworten; und aus Schüchternheit, letztlich aus einem Mangel an Kaltblütigkeit ließ er die Worte unverändert, die ihm über die Lippen kamen.
Und so sagte er: „Sie ist nach Bourges gefahren.“

Diese harmlos scheinende Notlüge, die er unbedacht und sorglos verwendet, um seine Frau und sich selbst vor übler Nachrede zu schützen, erweist sich jedoch im weiteren Verlauf der Handlung als fataler, nicht wieder gut zu machender Fehler, denn anders als all die anderen Male zuvor, kehrt Gina diesmal nicht zu ihm zurück und bleibt spurlos verschwunden, was zu zahllosen Verdächtigungen führt und den sympathisch-widersprüchlichen jüdischen Buchhändler in den Augen der bürgerlich-konventionell denkenden Marktleute sowie der sich schließlich ebenfalls einschaltenden Polizei in den Verdacht rückt, seine Frau ermordet und beseitigt zu haben.

Hier dürfen wir die Meisterschaft des an zahlreichen Kriminalromanen geschärften brillanten Romanciers miterleben, dessen Mittel man allzu leicht zu unterschätzen gewogen ist. Beeindruckend, wie mühelos er Stimmungen, Charakterzeichnungen mit nur wenigen Sätzen und gelungenen Bildern anzudeuten vermag, wofür andere begabte Schriftsteller oft Hunderte von Seiten benötigen. Die Familiengeschichte seines Protagonisten etwa skizziert er in meisterhafter Kürze auf nur einer Seite anhand von dessen lückenloser Sammlung historischer russischer Briefmarken.

Am bitteren Ende bleiben wir ratlos-staunend zurück:

Man hatte ihn nicht verstanden, oder er hatte die andern nicht verstanden, und dieses Missverständnis würde nun wohl nie mehr geklärt werden.

Es ist absolut beeindruckend, wie der Autor auf nicht mehr als 200 Seiten ein Panorama des prallen Lebens auszubreiten vermag – Georges Simenon ist ein großartiger Kenner der menschlichen Gefühls- und Gedankenwelten und bleibt immer wieder eine Entdeckung wert!

„Der Buchhändler von Archangelsk“, aus dem Französischen von Alfred Kuoni, erschienen bei Diogenes, 207 Seiten, € 9,-