Jerusalem

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Montag, 5. November 2012

„Die letzten Tage von Stefan Zweig“ von Guillaume Sorel und Laurent Seksik


Unter dem Titel „Vorgefühl der nahen Nacht“ erschien Anfang letzten Jahres eine bemerkenswerte, selten einfühlsame und kenntnisreiche literarisch-biografische Skizze des französischen Schriftstellers Laurent Seksik über die letzten Tage von Stefan Zweig und seiner jungen Ehefrau Lotte im brasilianischen Exil. Angesichts der ideellen und materiellen Zerstörung seiner geistigen Heimat Europa durch den Nationalsozialismus und veranlasst von der von ihm als gleichsam unumkehrbares Schlüsselereignis des Krieges wahrgenommenen Eroberung Singapurs durch japanische Truppen hatte er gemeinsam mit seiner schwerkranken Frau in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 laut Abschiedsbrief „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ seinem Leben mit einer Überdosis Veronal im Alter von sechzig Jahren ein unnötig frühes Ende gesetzt. 

Schon 1925 hatte der berühmte Schriftsteller in seinem Kleist-Essay „Der Kampf mit dem Dämon“ dessen Mord an seiner kranken Geliebten und den anschließenden Selbstmord als vorgebliches „Meisterwerk“ verklärt. Nun hat der begabte französische Zeichner Guillaume Sorel gemeinsam mit Laurent Seksik als Texter dessen preisgekrönten Roman zu einer großformatigen, mit elegischen Bildern von großer melancholischer Schönheit aufwartenden, den Leser teils beeindruckenden, teils verstörenden Graphic Novel verdichtet, die ihrerseits die in jeder Hinsicht endgültige Sichtweise Stefan Zweigs auf das Tabuthema Selbstmord mit geradezu berückend schönen farbigen Zeichnungen für den Betrachter auf kongeniale Art und Weise „als wäre man an seiner Stelle“ erfahrbar macht.

Eine zentrale Szene in dem aufwendig gestalteten Band „Die letzten Tage von Stefan Zweig“ ist eine kleine Abendgesellschaft anlässlich von Zweigs sechzigstem Geburtstag, während der er sein aus diesem Anlass verfasstes Gedicht „Abschied vom Leben“ rezitiert: 

Vorgefühl des nahen Nachtens
es verstört nicht – es entschwert
reine Lust des Weltbetrachtens 
kennt nur, wer nichts mehr begehrt 

Nicht mehr fragt, was er erreichte 
nicht mehr klagt, was er gemisst 
und dem Altern nur der leichte 
Anfang seines Abschieds ist.

Niemals glänzt der Ausblick freier 
als im Glast des Scheidelichts 
nie liebt man das Leben treuer 
als im Schatten des Verzichts.

Tief verletzt und erschüttert verlässt die lebenslustige, fast dreißig Jahre jüngere, jedoch schwer an Asthma erkrankte Charlotte die Gesellschaft und beruhigt sich erst wieder, nachdem sie ihrem Mann das heilige Versprechen abgerungen hat „zu leben“. Trotz niederschmetternder Nachrichten aus Europa und aus dem Freundeskreis im Exil versucht das ungleiche Paar noch einmal mit ganzer Kraft, sich im Dasein festzukrallen: gemeinsam besuchen sie noch im Februar den Karneval in Rio, Inbegriff des unbeschwerten, rauschhaften Lebens mit allen Sinnen. Doch für den in seiner Depression gefangenen Stefan Zweig ist es der Tanz auf dem Vulkan – als die Nachricht eintrifft, dass Singapur gefallen sei, verliert er jegliche Hoffnung. 

So erweist sich der „Abschied vom Leben“, wie er ihn im Gedicht literarisch überhöht hat, weniger als lebenssatter Verzicht denn vielmehr als fatale Unfähigkeit, sich nicht nur einer wenn auch welterfahrenen Idee vom Leben zu stellen, sondern dem Leben selbst. Anders als viele seiner Schriftstellerkollegen im Exil musste Zweig aufgrund seiner bemerkenswerten weltweiten Popularität keinerlei wirtschaftliche Not leiden. Das Ende des Buches ist in seiner Beschwörung der romantischen Liebe „Ich werde dich nie verlassen“ - „Ich werde über deine Seele wachen“ geradezu rührend. „Die letzten Tage von Stefan Zweig“ ist mit seinen zahlreichen unvergesslichen Bildern und intensiven Szenen ein absolut glänzendes Beispiel für die Möglichkeiten der dokumentarischen Graphic Novel.

Die letzten Tage von Stefan Zweig“, erschienen bei Jacoby & Stuart, 85 Seiten, € 24

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